Alsterdorf und die Cholera in Hamburg 1892

Nicht erst in der Gegenwart hat Alsterdorf sich mit der Gefahr von Epidemien auseinanderzusetzen. Wo viele Menschen eng aufeinander leben, ist die Ansteckungsgefahr bereits im Alltag sehr hoch.

Vier herausragende Katastrophen haben sich in die Hamburger Geschichte tief eingebrannt und sind vielen von uns immer noch bewusst: Der Hamburger Brand von 1842, die Cholera Epidemie 1892, die Feuerstürme der Bombardierung 1943 und die Flutkatastrophe 1962. Die Cholera-Epidemie in Hamburg war der letzte große Seucheneinfall in Westeuropa. Anders als die sich lange hinziehende sog. „Spanische Grippe“ während und nach dem 1. Weltkrieg war die Cholera ein Schreckenstrauma von wenigen Wochen. Vieles aus dem Jahr 1892 erinnert in fataler Weise an die Gegenwart des Jahres 2020. Ab dem 15. August 1892 traten die ersten vereinzelten Fälle von Cholera in Hamburg auf. Diese wurden noch als „Brechdurchfälle“ eingestuft. Ab dem 20. August waren sich Ärzte einig, dass es sich um die echte „Cholera Asiatica“ handeln musste und nicht um harmlose Durchfallerkrankungen. Im benachbarten preußischen Altona wurde der Amtsarzt (Kreisphysikus) unterrichtet, einen Tag später der Oberpräsident der Provinz, der die Berliner Behörden amtlich informierte. Anders ging man in Hamburg vor bzw. nicht vor: Nachdem es am 20. August gelungen war, im Eppendorfer Krankenhaus den bereits bekannten Choleraerreger nachzuweisen, wurde am 22. August der Leiter des Gesundheitswesens offiziell in Kenntnis gesetzt. Dieser gab die Nachricht jedoch erst verspätet weiter. Am 24. August, also acht Tage nach Auftreten der ersten Fälle, tagte der Senat und sprach über Maßnahmen, die man ergreifen würde. Auf dem Weg über die preußische Verwaltung im benachbarten Altona war inzwischen auch das Reichsgesundheitsamt informiert worden und wurde tätig. Robert Koch wurde nach Hamburg zur Beratung der Behörden entsandt. Sehr langsam liefen die ersten Bekämpfungsmaßnahmen an.

„Hätte man den ersten Cholera-Fall vom 18. August ordentlich diagnostiziert, wäre der Senat möglicherweise in der Lage gewesen, den Bewohnern der Stadt Verhaltens Maßregeln zu geben, beispielsweise den Hinweis ihr Trinkwasser abzukochen. Am 24. war es dafür zu spät.1

urteilt der Historiker Sir Richard Evans in seiner großen Studie zur Cholera in Hamburg. Schon am 27. August erreichte die Zahl der Neuerkrankungen mit über 1000 am Tag ihren Höhepunkt. Die Zahl der Todesfälle stieg im September auf über 500 täglich.
Als Magen-Darm-Krankheit entsteht eine Cholerainfektion durch orale Aufnahme des Choleraerregers. Dies geschah in Hamburg vor allem durch verseuchtes Trinkwasser, konnte aber auch über Schmierinfektionen über Ausscheidungen geschehen.
Für die Alsterdorfer Anstalten, als relativ autarker Einrichtung außerhalb der Stadt, war es daher relativ leicht, sich während der Choleraepidemie zu isolieren. Sie waren nicht von der Hauptansteckungsquelle betroffen. Die Hamburger Wasserversorgung mit unzureichend gereinigtem Elbwasser kostete Tausenden von Hamburgern innerhalb von 2 ½ Monaten das Leben. Für Alsterdorf galt das nicht, denn bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatten die Alstervororte und die Walddörfer ihre eigene Brunnenversorgung.

Die in Alsterdorf ergriffenen Maßnahmen erinnern mit verblüffender Übereinstimmung an das, woran wir uns in der letzten Zeit selbst gewöhnen mussten. Der Direktor der Alsterdorfer Anstalten, Heinrich Matthias Sengelmann – zu diesem Zeitpunkt bereits 71 Jahre alt – befand sich Ende August im Sommerurlaub in Laboe und kehrte am 25. August nach Alsterdorf zurück. Die Alsterdorfer Anstalten riegelten sich als erstes vollständig von der Stadt ab.
Es wurden in Alsterdorf nicht nur keine Neuaufnahmen und Neueinstellungen mehr durchgeführt. Es wurde auch jeder Besuch der „Anstalten“ unterbunden. Den Zöglingen und den Mitarbeitern wurde jeder Besuch außerhalb Alsterdorfs untersagt.

Das Jahres- und Erntefest, das in Alsterdorf traditionell mit dem Sedantag am 2. September gefeiert wurde, wurde ebenso abgesagt wie die für Anfang September in Berlin geplante „Conferenz bezüglich des Idiotenwesens“, da „die Ansammlung großer Menschenmassen leicht eine Verschleppung der Krankheit veranlassen konnte.
Im Sommer war ein Neubau fertiggestellt worden, sodass es möglich war, die Belegung der Häuser so umzuorganisieren, dass auch die Mitarbeiter, die nicht im Gelände lebten, hier kurzfristig mit ihren Familien einziehen konnten.

Der Maler, der im Dorfe wohnte, musste seine vor wenigen Tagen entbundene Ehefrau herüber nehmen nebst seinen Kinderchen; ihm wurde die Etage in Schönbrunn zur Wohnung überwiesen.

Nicht für alle kam die angeordnete Isolation rechtzeitig.

„Unser Waschmann ging am 25. August in seine Wohnung nach Winterhude: er fand einen Einlogierer schon erkrankt an der Cholera, und bald nachdem dieser ins Lazarett abgeführt war, erkrankte auch unser Lübker und starb, zwei kleine Kinder als vater- und mutterlose Weisen (!) hinterlassend.“

Die Meldungen über den Verlauf der Cholera hatten auch Einfluss auf die allgemeine Versorgung der Anstalt. Man stellte sich um, verzichtete auf die Belieferung aus dem Choleragebiet und orientierte sich neu. Nachdem auch in Eppendorf und Winterhude Cholerafälle aufgetreten waren, wurden die Apotheke in Fuhlsbüttel und ein neuer Schlachter für die Belieferung der Anstalt ausgewählt.

„Größtmögliche Isolierung der sonst mit der Stadt und ihrer Umgebung so vielfach verbundenen Anstalt war eine Aufgabe der Direktion, die viel Nachdenken und Mühe verursachte.“

Verstorbene, die es in diesen Monaten auch gab, mussten entgegen den sonstigen Üblichkeiten in Alsterdorf im allerkleinsten Kreis bestattet werden. Für den Fall der Fälle war eine Krankenstube mit strengster Isolation eingerichtet worden. Diese wurde jedoch letztendlich nicht benötigt. Jeder harmlose Brechdurchfall, wie sie häufig und besonders im Sommer auftraten, führte zu erheblicher Besorgnis und Anspannung. Da es in Alsterdorf nicht möglich war, Tests auf Cholera durchzuführen, blieb die Angst in jedem Einzelfall bestehen – und das nicht ohne Grund.

4 Am 12. September 1892 meldeten nicht nur Hamburger Zeitungen, sondern auch der Korrespondent des englischen „Standard“ weltweit, dass die Cholera nun auch Alsterdorf erreicht hätte.

Ein Korrespondent des englischen „Standard“ meldet, dass die Cholera nun auch Alsterdorf erreicht hätte

Die „Anstalten“ blieben jedoch verschont, fast 600 Menschen („Zöglinge“, Mitarbeiter, Angehörige) verbrachten mehrere Wochen in Quarantäne, ohne dass es zu Ansteckungen kam. Besucher durften keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen.

„Rührend äußerte sich die Anhänglichkeit eines Vaters an sein Kind. Er ist gewohnt, an jedem Sonntage die Tochter zu besuchen. Er unterließ es auch jetzt nicht, und begnügte sich an die Pforte zu kommen, um die Tochter nur durch die Stäbe des Gitters zu sehen.“

Obwohl kein Besuch in die „Anstalten“ nach Alsterdorf hineingelangen konnte und es keine Krankheitsfälle im Gelände gab, waren die Anstalten in gewisser Weise stärker als alle anderen Orte betroffen. Die genauen Zahlen weichen geringfügig voneinander ab, aber es ist davon auszugehen, dass es in Hamburg ca. 17.000 Erkrankungen und ca. 8.600 Todesfällen innerhalb von drei Monaten gab. Die weitaus größte Zahl dieser Toten wurde in Massengräbern im damals noch neuen Friedhof Ohlsdorf beigesetzt. Tag und Nacht waren Totengräber beschäftigt. Ununterbrochen wurden die Leichen zum Friedhof gebracht. Die Leichenwagen fuhren direkt an der Eingangspforte zu den Alsterdorfer Anstalten vorbei. Für Sengelmann ein erdrückendes Erlebnis:

Leichenwagen – Bild Geschichtsbuch Hamburg

„Ein Leichenwagen schloss sich eng an den anderen an; fast alle Särge ohne jeglichen Schmuck. Manche Wagen hatte durch Querstellung der Särge sich Raum für mehrere Särge geschaffen. Die gewöhnlichen Wagen wurden in ihrer Reihe durch jene großen Todtenwagen unterbrochen, die wir sonst als die Transportmittel der Anstalten kennen, aber nicht blos durch diese, sondern durch große, von vier Pferden gezogenen Möbelwagen, in denen sich Raum für 40 bis 50 Särge fand. Dieser große Leichenzug begann morgens schon um 7:00 Uhr und dauerte bis spät Abends fort, ja in der Nacht noch hörte man mehrmals das Gerumpel der großen Wagenkolosse, denn auch Nachts setzen die Todtengräber ihre schauerliche Arbeit fort.“

Diese Erfahrungen mit der nicht enden wollenden Folge von Leichenkarren sind für Sengelmann das prägende Bild der Cholera, wie er es in einem Gedicht ausdrückt.

Viele Reaktionen in Alsterdorf und außerhalb erinnern in aller Deutlichkeit an die Ereignisse der letzten Wochen. Wie Sengelmann berichtete, gab es auch damals ein großes Informationsbedürfnis. Statt Internet und Fernsehen waren es die Tageszeitungen, in denen eigene Recherchen und „amtliche Verlautbarungen“ nicht immer in Übereinstimmung zu bringen waren:

„Am Tage sucht man sich aus den Tagesblättern Nachricht über die Zahl der Opfer zu verschaffen, aber vergeblich. Man konnte die verschiedenen Zahlen mit den andern nicht in Einklang bringen.“

Da die Cholera nicht von Mensch zu Mensch, sondern über Ausscheidungen übertragen wird, kam der bis dahin oft vernachlässigten Hygiene eine besondere Rolle zu. Desinfektion war das große Stichwort, mit genau den heute bekannten Folgen.

„So groß war die Nachfrage nach Desinfektionsmitteln, daß deren Preise ungeahnte Höhen erklommen, und skrupellose Hausierer begannen auf den Straßen Schwindlerinnen Nachahmung zu vertreiben,“ berichtet Evans (455).

Schon während der Epidemie wurde die zögerliche Haltung der Gesundheitsverwaltung und des Senats kritisiert. Auch damals äußerten sich auf Versammlungen und vor allem in Zeitungsartikeln verängstigte Hamburger und fanden vielfach Gehör für ihre Sorgen. Diesen Stimmen schloss sich Sengelmann, der in seiner Jugend und in seinen Jahren als Pastor in Moorburg bereits mehrere kleinere Cholera-Ausbrüche erlebt hatte, nicht an.
Er hielt es nicht für angemessen, Schuldige für das Ausmaß der Katastrophe zu suchen, genauso wenig wie man beim großen Brand von 1842 nach Schuldigen hätte suchen können. So äußert Sengelmann seine Verwunderung:

„Aber diese selbst sollte ja eine verschuldete sein. Bei einer richtigen Anwendung aller menschlichen Abwehrmittel hätte sie nicht diesen Umfang sollen erreichen können. Welch eine Überschätzung der Menschenkraft! […] Die, welche Hamburgs Behörden verantwortlich machen wollen, betreten ein sehr schlüpfriges Gebiet.“

Sengelmann glaubt nicht, dass es in Hamburg einen wirklich von Herzen kommenden Dankgottesdienst geben würde, wie es in früheren Zeiten nach überstandener Gefahr üblich war. Für ihn ist die Cholera ein Menetekel, allerdings nicht für die Unfähigkeit der Hamburger Verwaltung oder die verantwortungslose Bauweise, die keine Rücksicht auf die hygienischen Maßnahmen nahm, die bereits für zur Vorsorge gefordert waren. Sengelmann versteht die Katastrophe als Folge der allgemeinen Abkehr von Gottes Geboten, so wie er sie versteht.

„Wir sehen in diesem Erlebnis eine schwere Heimsuchung des Herrn, ein Läuterungsfeuer, durch welches er uns zu führen in seiner Weisheit für nöthig erachtet. Wir sehen, was über uns gekommen ist, als von seiner Hand herbeigeführt an, als des Herrn gewaltige Zuchtruthe, als seine Bußpredigt an uns, als ein von ihm hingestelltes Fragezeichen, wie es um die Liebe stehe, die er in seinem Volke sucht.

Mit dieser Auslegung der Ereignisse, die auch anderorts in der Hamburger Kirche vertreten wurde, stieß Sengelmann aber keineswegs auf einhellige Zustimmung.

„Bei früheren Epidemien hat es geheißen: ‚auf Gott vertrauen und der Obrigkeit gehorchen‘; als Grund für die Cholera galt der Niedergang der Moral, wozu unzweifelhaft auch die Gottlosigkeit gehörte. Zur Zeit der Epidemie von 1892 hatte sich die Diskussion über die moralischen Ursprünge der Krankheit selbst weitgehend säkularisiert,“

stellt Evans (455) in seiner Untersuchung fest. Auch Sengelmann schien sich dessen bewusst gewesen zu sein, als er schrieb:

„Umso mehr beklagen wir es, dass mancherwärts nicht diese, sondern andere Stimmen zur Geltung kommen.“

Wie in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, wusste niemand recht, wie die Informationen über die Erkenntnisse der Wissenschaft einzuschätzen waren. Ab wann war es sinnvoll und zu verantworten, mit Lockerungen zu beginnen? Wie lange sollten die Schutzmaßnahmen andauern?

„Aber die Behauptung einer medicinischen Autorität, dass eine Cholera-Epidemie, die rapide zunehme, auch ebenso rapide von ihrem Gipfel herabsteige, trifft doch wohl in diesem Falle nicht zu. Wir sind darauf gefaßt, daß wir unsere Ausnahme-Ordnungen und -Maßregeln nicht so bald werden abstellen können. So wird also unsere Sorgenzeit, wie wir fürchten, nicht so gar bald vorüber gehen.“

Große Sorgen machte sich Sengelmann – wie wir heute – aber auch über die Zeit nach der Epidemie. Die Alsterdorfer Anstalten erhielten zwar die Grundversorgung der „Zöglinge“ durch die öffentliche Wohlfahrt finanziert, waren aber für den weiteren Ausbau der Einrichtung in hohem Maße auf Spenden angewiesen. Im Sommer waren Neubauten innerhalb der Anstalten fertig geworden, was der Einrichtung in Isolationszeit sehr zugute kam. Die Finanzierung dieser Gebäude war jedoch noch nicht gesichert. Für den Herbst war eine neue größere Spendenaktion geplant.
„Die Anwendung neuer Beitraggeber sollte geschehen – und mußte gerade jetzt vorgenommen werden.“ Dem stellten sich erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Nach Abklingen der Cholera war anzunehmen, dass in Hamburg „viel außerordentliche Armuth zu lindern“ sei. Sengelmann zweifelte nicht daran, dass

 „diese Aufgabe auch in ihrem ganzen Umfang werde gelöst werden. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß wo außergewöhnliche Nothstände eintreten, diese eine lautere Stimme erheben, als die der gewöhnlichen ist. […] Die Stimme des alten Bittstellers wird trotz ihrer Dringlichkeit dem neuen gegenüber nicht zur Geltung kommen. In dieser Lage befinden sich gegenwärtig unsere Anstalten.“

In der besonderen Situation der Cholera-Katastrophe fühlte sich auch Alsterdorf verpflichtet, die aufgelaufenen Rechnungen schneller zu bezahlen als anscheinend sonst üblich.

„Wir denken daran, wie die Nothlage, von welcher namentlich kleinere Geschäfte und Handwerker betroffen werden, uns die Pflicht aufliegt, ihrer mit unserer Zahlung eher zu gedenken, als es sonst wohl nötig gewesen wäre.“

Für Alsterdorf bestand die Gefahr eines existenzbedrohenden Rückgangs des Spendenaufkommens. Günstig war es, dass man in Alsterdorf gerade begonnen hatte, den „Fundraisingbereich“ auszuweiten. Obwohl in Hamburg gelegen, waren in Alsterdorf keineswegs nur Hamburger „Zöglinge“: Die Bewohner kamen auch aus Schleswig-Holstein, Lübeck, der Provinz Hannover oder dem Land Oldenburg, aus Mecklenburg und von weiter her.1891 hatte man daher einen Beirat gebildet, der es sich zu Aufgabe gemacht hatte, außerhalb Hamburgs Spenden für Alsterdorf einzuwerben. „Sendboten“; sog. Kolporteure, besuchten dort Kirchengemeinden und andere Institutionen, um über Alsterdorf zu informieren und Gelder zu erbitten. Im Moment war dies zwar schwierig, denn

„wir finden überdies geradezu Wege abgeschnitten, auf denen uns sonst Hilfsmittel zugeführt wurden, unsere Kolportage wurde lahmgelegt, da die aus verseuchten Orten kommenden Sendboten nirgends Zutritt erhielten.“

Alsterdorf verließ sich auf die Erfahrung dieser fast professionellen „Marketing-Dienstleister“, denen zufolge „verschiedene Zeitpunkte geeignet“ waren, um Aufrufe zu erlassen. „Gewiß kann darüber nur die Einsicht der Männer, welche gerade die Theilnahme an unseren Anstalten zu Mitgliedern unseres Beirathes machte, entscheiden.“

Insgesamt scheinen diese Aufrufe erfolgreich gewesen zu sein, denn in seinen Silvester- Betrachtungen zur Jahreswende 1892/1893 klingt Sengelmann sehr zuversichtlich.

Für das Frühjahr waren in Mecklenburg Kirchenkollekten zu Gunsten Alsterdorf vorgesehen, auch eine Haussammlung konnte durchgeführt werden. Und selbst die nach Ostfriesland gesandten „Sendboten“ waren so erfolgreich, dass nicht nur Sengelmann davon berichtet, sondern auch die in Iowa (!) USA erscheinenden „Ostfriesische Nachrichten“. In Emden waren 64 M zu Gunsten der Alsterdorfer Anstalten gesammelt worden.

20er Jahre

Während die Alsterdorfer Anstalten – wie gesehen – 1892 von der Cholera verschont geblieben war, gab es in späteren Jahren immer wieder Krankheitsausbrüche, auch mit zahlreichen Todesfällen, die aber mehr oder minder alltäglich erschienen. Der Übertragungsweg der Cholerabazillen machte es vergleichsweise einfach, Infektionen zu verhindern, dies war bei hoch infektiösen Krankheiten wie Masern u.ä. nicht möglich. Weit schlimmer als heute, musste sich Alsterdorf in den zwanziger Jahren des 20.Jh. immer wieder mit Krankheitsausbrüchen auseinandersetzen. Die Krankheitswellen erschienen nicht spektakulär, führten nicht zu so ausführlichen Sonderberichten wie 1892. Sie verbergen sich eher hinter den Zahlen und kurzen Berichten des medizinischen Teils des Jahresberichtes. Da – wie auch an anderer Stelle dargestellt – nicht nur in Alsterdorf, sondern in allen vergleichbaren Einrichtungen der medizinische Aspekt der Arbeit immer weiter in den Vordergrund rückte, standen den Medizinern nun verstärkt Raum in der Berichterstattung über die Arbeit und das Leben in Alsterdorf aus ihrer Sicht zu.

1927 mussten gemäß Jahresbericht (Briefe und Bilder 1, 1928) 3883 Bewohner mit Erkrankungen stationär in der eigenen Krankenabteilung behandelt werden. Nahezu die Hälfte (1507) betrafen Hautkrankheiten, aber in 701 Fällen waren es Infektionskrankheiten. 14 Heimbewohner*innen starben an Masern, weitere 14 an Lungenentzündungen, 12 an Tuberkulose. Schon 1926 zeichnete sich ein langanhaltender Masernausbruch in Alsterdorf ab. Die hochansteckende Krankheit ließ sich auch durch Isolation der Patienten in einer speziellen Baracke für Infektionskrankheiten nicht an der Ausbreitung hindern. Bei anderen Infektionskrankheiten wie Scharlach und Diphtherie – die immer wieder nach Alsterdorf eingeschleppt wurden – gelang es meist, die Krankenzahl durch sofortige strenge Isolation gering zu halten. Anders beim hochsteckenden Keuchhusten und bei den oftmals mit Komplikationen verbundenen Masern. Ein „Zögling“ erkrankte Anfang Dezember nach Rückkehr von einer Beurlaubung und steckte sofort seine Abteilung an. Die sofortige Isolation des ganzen Hauses konnte die Weiterverbreitung nicht verhindern, was laut Jahresbericht

„nicht zu verwundern ist, da seit Jahren eine Masernepidemie in der Anstalt nicht geherrscht hatte und die überwiegende Zahl der Zöglinge nicht durchgemasert (!) war.“

In Alsterdorf wurde eine Art „Teil-Isolation“ durchgeführt. Die Infektionsbaracke wurde in eine reine Masernstation umgewandelt, die ganze „Anstalt“ galt als betroffen, sodass von Dezember 1926 bis April 1927 keine neuen Bewohner aufgenommen werden konnten. Fast 100 Patienten wurden behandelt. Die Zahl von 14 Todesfällen zeugt von dem besonders schweren Verlauf der Krankheit.

„Auch die Erscheinungen seitens der Atmungsorgane waren in der Mehrzahl der Fälle sehr ausgesprochen, es taten zahlreiche schwere Bronchitiden und Pneumonien auf. Auch eine Anzahl Mittelohrentzündungen kamen vor. Fast alle Fälle waren mit hohem langdauerndem Fieber, zum Teil mit schwerer Somnolenz [[Bewusstseinsstörung] verbunden. Auch die Patienten, die das akute Stadium, die Lungenerkrankung und sonstige Nachkrankheiten glücklich überstanden hatten blieben noch wochenlang sehr schwach und anfällig.“

Im Februar kam es zusätzlich zu Scharlachfällen, an denen sogar einige der gerade von den Masern Genesenen erkrankten. Todesfälle gab es hier allerdings nicht.

Eine ähnliche Entwicklung wiederholte sich 1929. Zunächst trat im Herbst eine Scharlachepidemie mit 43 Fällen (3 Todesfällen) auf. Die sofortigen strengen Isolationsmaßnahmen konnten die Verbreitung nicht aufhalten. Zeitgleich wurden durch einen Urlauber im Oktober die Masern erneut eingeschleppt. Zeitweilig waren 25 bis 30 Patienten gleichzeitig erkrankt. Insgesamt erkrankten 43 Bewohner mit 5 Todesfällen, zu denen vor allem die bereits geschwächten Kinder zählten. Wieder verliefen die Masern sehr schwer mit langanhaltender Krankheitsdauer.

Einzelfälle von Infektionskrankheiten wiederholten sich in den nächsten Jahren immer wieder.


1 Evans, Richard. Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830 – 1910, Reinbek 1990.
Die 850 Seiten starke Studie von Evans untersucht die Cholera-Epidemie von 1892 unter allen sozialen und politischen Aspekten und Folgen.

Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate stammen von Sengelmann aus den „Briefe und Bilder“ von 1892. Die Original-Rechtschreibung wurde beigehalten