Nähe in Zeiten von Distanz

„Freiräume erspüren und nutzen“ – das haben sich die Kolleg*innen des Assistenz- und Wohnangebots Wohldorf im Osten Hamburgs auf die Fahnen geschrieben.

27 Klient*innen und Beschäftigte mit größtenteils hohem Assistenzbedarf finden hier in geschützter, grüner Umgebung ein familiäres Miteinander und ein ruhiges Zuhause. Die Coronazeit stellt die hier betreuten Menschen vor besondere Herausforderungen. Langsam kehrt mit Lockerung der offiziellen Corona-Maßnahmen ein Stück Normalität zurück. Die „bunt“-Redaktion traf Anfang September Ingrid Beermann, Leiterin der Tagesförderung in Wohldorf (alsterdorf assistenz ost), und ihre Kollegin Christina K. im großen Garten des Assistenz- und Wohnangebotes, um mit ihnen über den Weg in ein „neues Normal“ zu sprechen.

Bereits unter bisherigen Umständen bringen für die Klient*innen und Beschäftigten in Hamburg-Wohldorf Veränderungen gewisse Schwierigkeiten mit sich, etwa bei der Orientierung auf dem Gelände und dem täglichen Miteinander. Mit Corona kamen diese Veränderungen zuhauf: eingeschränkte Aufenthalts- und Betreuungsangebote, Abstands- und Hygieneregeln, Wegfall von gemeinsamen Einkäufen im Umfeld. „Corona hat unseren Alltag auf den Kopf gestellt“, sagt Ingrid Beermann. „Die räumliche Großzügigkeit unseres Hauses mit zwei Etagen, dem Garten und den nahliegenden Wohnangeboten schrumpfte durch die Abstandsregelungen und Kontakteinschränkungen plötzlich zusammen.“ Am ersten Juli 2020 wurde das Angebot der Tagesförderung mit Einschränkungen wieder geöffnet. Waren die 27 Klient*innen und Beschäftigten bislang täglich zusammen, gilt seit den Corona-Regeln im Frühjahr ein rollierender Aufenthalt für jeweils rund 14 Menschen, die sich an zwei bis vier Tagen auf dem Gelände aufhalten dürfen – je nach dem individuellen Bedarf.

Patrick Geerken ist einer der Beschäftigten in Wohldorf – Fotos: Carolin Matysek

Gärtnern gegen die Langeweile

„Unsere Haustür stand immer offen“, so Christina K. „Mit Beginn der Pandemie wurden unsere Klientinnen, Beschäftigten und Besucherinnen einzeln am Tor empfangen. Erst nach Desinfektion der Hände und dem Anlegen eines Mund-Nase-Schutzes kommen die Menschen zu uns.“ Die sogenannten „AHA-Regeln“ (steht für: Abstand – Handhygiene – Alltagsmasken), die für uns alle zur Normalität geworden sind, werden täglich neu mit den teilweise schwer geistig und körperlich behinderten Menschen in Wohldorf geübt. „Insbesondere das permanente Abstandhalten ist für viele unserer Klient*innen und Beschäftigten schwer zu verstehen. Es ist für sie völlig normal, andere Menschen auch mal anzufassen“, erklärt Ingrid Beermann. „Es braucht Zeit und viel Zuspruch, den Menschen die neuen Regeln zu vermitteln. Einer unsere Beschäftigten aus dem naheliegen Wohnhaus konnte nicht verstehen, dass er nur noch montags und mittwochs in die Tagesförderung kommen darf. Neulich hatte ich ihn gefragt, ob er mir im Garten helfen kann. Er antwortete mir: ‚Nö, heute habe ich frei!‘. Das fand ich klasse“, sagt Ingrid Beermann mit einem Lächeln.

Teilnahme steht im Vordergrund

Das tägliche gemeinsame Einkaufen und Kochen, die Arbeit im Garten und in der eigenen kleinen Wäscherei, die Spaziergänge in der grünen Umgebung: alle sind dabei! „Vor Corona nahmen unsere Klient*innen und Beschäftigten ganz selbstverständlich an den Angeboten der Tagesförderung teil – jede/ r half im Rahmen der eigenen Möglichkeiten mit“, so Christina K. „Der strukturierte Alltag, das gemeinschaftliche Erleben und die körperliche Bewegung, all das ist extrem wichtig für die Menschen hier. In den vergangenen Monaten mussten wir stark improvisieren, um zumindest ein Stück Alltag zu bewahren.“

Das Einkaufen findet seit dem Frühjahr nicht mehr mit zwei bis drei Personen statt. Nur noch ein/e Klient*in, die zuverlässig einen Mund-Nase-Schutz tragen kann, begleitet Christina K. und ihre Kolleg*innen. Auch gekocht wird mit Mundschutz und in kleineren Gruppen als sonst. „Durch die geltenden Kontakteinschränkungen erleben die bei uns betreuten Menschen große Verunsicherungen in wichtigen Beziehungen, was zu seelischen Krisen führen kann“, sagt Ingrid Beermann. „Wir tun alles dafür, um dies zu vermeiden und um die Lebensqualität gerade auch jetzt zu erhalten.“ Gartenarbeiten sind dabei eine gute Möglichkeit, um etwas Abwechslung in den Alltag zu bringen und die Beschäftigten zu aktivieren.

Sinnliche Erfahrung im Umgang mit Erde und Pflanzen – dank wertvoller Spenden

Der große Garten des Wohn- und Assistenzangebots in Wohldorf bietet einige Möglichkeiten, um die Menschen in Bewegung und Beschäftigung zu bringen – und auch mal den in den Innenräumen getragenen Mund-Nase-Schutz ablegen zu können. „Da entstand die Idee, zwei Hochbeete anzulegen und diese mit Gemüse, Beeren und Kräutern zu bepflanzen“, erläutert Christian K. „Eine zusätzliche Anschaffung, die wir für das laufende Jahr nicht eingeplant hatten. Hier waren wir sehr froh, dass wir für die Anschaffung der Hochbeete aus dem Corona-Hilfsfonds der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, der aus Spenden für die ESA gespeist wird, unterstützt wurden.“

Patrick Geerken und Christina K. bei der Gartenarbeit – Foto: Carolin Matysek

Gemeinsam mit ihrem Klienten Patrick Gerken befüllt Christina K. eines der Hochbeete mit Erde. Auch im Herbst sollen hier Radieschen und Kräuter für die Küche der Tagesförderung wachsen. Im Hintergrund wippt eine junge Klientin auf einer nagelneuen Schaukel, die ebenfalls aus Spendengeldern angeschafft werden konnte. „Dank der Spenden können wir den Garten auch unter Corona-Bedingungen optimal nutzen und wertvolle Angebote für den Alltag machen“, freut sich Ingrid Beermann. „Die Hochbeete werden uns auch in die kältere Jahreszeit begleiten und für das kommende Jahr haben wir auch schon Ideen für die Bepflanzung.“ Hochbeete und Schaukel sind zwei Beispiele, wie die Klient*innen und Beschäftigten das „neue Normal“ in der Tagesförderung gestalten können. Ingrid Beermann und ihre Kolleg*innen haben schon das nächste Ziel im Blick: In einem Raum der Tagesförderung soll eine gemütliche Sitzecke zum Entspannen und „Snoezelen“* entstehen.

*Eigene Therapieform. Bedeutung etwa: bequem liegend oder sitzend, umgeben von Musik und Lichteffekten, die Reize und Interesse wecken sollen.