Den Menschen mit allen seinen Bedürfnissen wahrnehmen

Liebe, Partnerschaft und Sexualität sind ein festes Thema in der Heilerziehungsausbildung an der fachschule für soziale arbeit alsterdorf – zwei Studierende und ein Dozent erklären, warum.

Menschen mit Beeinträchtigungen äußern auf ihre Art und Weise den Wunsch nach Sexualität. Etwa, indem sie eine besonders große körperliche Nähe zum Beispiel zu Assistentinnen und Assistenten suchen und dies deutlich zeigen.

Für die Assistenzpersonen eine nicht ganz einfache Situation. Aber wie darauf reagieren? Wo sind die Grenzen? Und wie weit kann, darf oder sollen die Klientinnen und Klienten in ihren Bedürfnissen unterstützt werden?

Liebe und Nähe und der eigene Weg …

Sara Popa steht kurz vor dem Abschluss ihrer Heilerziehungsausbildung an der fachschule für soziale arbeit alsterdorf. Sie berichtet davon, wie Fragen zu Sexualität, Liebe und Partnerschaft in ihren bisherigen Erfahrungen bei der Assistenz von Menschen mit Beeinträchtigungen eine Rolle spielten. Und wie sie auch in ihrer Ausbildung behandelt werden.

Offen und selbstbewusst mit dem Thema umgehen

„Zuerst fiel es mir in solchen Situationen nicht leicht, einen Weg zu finden, wie ich mich verhalten sollte“, schildert sie. „Ich bin gleich nach meinem Abitur ins kalte Wasser geworfen worden. Vor meiner Ausbildung in der ESA war ich in einer Einrichtung, in der ich mein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) verbracht habe. Dort sagte man mir immer: Du schaffst das schon, wenn das Thema Nähe und Sexualität hochkommt. Ich habe auch immer einen eigenen Weg gefunden, doch oft habe ich mich im Nachhinein gefragt, ob er der richtige war. Ich fühlte mich manchmal sehr auf mich allein gestellt.“

Große Erfahrung trifft auf erste Eindrücke

Timm Fietz, der ebenfalls die Heilerziehungsausbildung macht, hat das Glück gehabt, sein FSJ in einer Werkstatt mit Tagespflegestätte zu machen, die die jungen Praktikanten stark unterstützt hat. „Ich konnte vieles ausprobieren, aber immer auch sagen, wenn mir etwas zu viel wurde.“

Das habe auch für Situationen gegolten, in denen die Sexualität der Klientinnen und Klienten berührt wurde. „Meine Kollegen konnten mit solchen Situationen gut umgehen, weil sie eine große Erfahrung hatten“, sagt der 25-Jährige. „Es waren offene Menschen. Dies gilt etwa, wenn jemand in einem Gruppenraum beginnt, sich selbst zu befriedigen. Wenn man eher konservativ eingestellte Kollegen in der Assistenz hat, sagen sie vielleicht einfach nur: ‚Das macht man aber nicht!‘ Während andere einem solchen Bedürfnis vielleicht Raum geben, den betreffenden Menschen vorsichtig ansprechen und in ein anderes Zimmer begleiten, wo sie allein sein können.“

Schulleiter Thomas Hülse und die Schüler*innen Sara Popa und Timm Fietz wissen um die Wichtigkeit des Themas Liebe und Partnerschaft in der Ausbildung – Fotos: Axel Nordmeier

Umgangsweisen mit einer selbstbestimmten Sexualität

Wer zum ersten Mal vor solchen Situationen steht, kann sich in der Tat verunsichert fühlen. Aus diesem Grund ist der Themenbereich Liebe, Partnerschaft und Sexualität ein Teil des Lehrplans in der dreijährigen Ausbildung in der fachschule für soziale arbeit. Er wird neben den Themen Bildung, Arbeit, Wohnen und Freizeit im Schwerpunkt „Lebenswelten“ im Fach „Entwicklung, Bildung, Partizipation“ unterrichtet, wie Thomas Hülse erklärt, der Leiter der Fachschule.

„Früher ist das Thema in der Ausbildung wenig behandelt worden“, sagt er. „Das lag vielleicht daran, dass man Menschen mit Behinderungen eine eigene Sexualität oft nicht zugestanden hat. Das waren sozusagen ‚entsexualisierte Wesen‘. Und wenn dann etwas passiert ist, das doch auf eine eigene Sexualität verwies, taten alle völlig überrascht.“

Sara Popa und Timm Fietz haben diese Erkenntnis zum Anlass genommen, die Abschlussarbeit für ihre Ausbildung über Umgangsweisen mit einer selbstbestimmten Sexualität in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe in Hamburg zu schreiben. Dafür haben sie in verschiedenen Einrichtungen recherchiert. Ihre Erfahrungen waren „sehr unterschiedlich“.

„Früher ist das Thema in der Ausbildung wenig behandelt worden“

„Aufklärung ist schon bei Menschen ohne Behinderung ein sehr breit gefächertes Thema, doch wenn der Faktor Behinderung dazukommt, muss die Vorgehensweise auf die einzelne Person zugeschnitten sein“, sagt Timm Fietz. „Wenn man wirklich eine Selbstbestimmtheit bei den Menschen erreichen möchte, braucht man Assistenzpersonen, die offen und selbstbewusst mit dem Thema umgehen. In einigen Einrichtungen gibt es die, in anderen eher nicht.“ Entscheidend sei, die Bedürfnisse der Menschen anzuerkennen und wahrzunehmen, sagen die beiden Studierenden. „Weil das Thema oft noch zu wenig präsent ist, kommt es im täglichen Miteinander mitunter zu Problemen“, sagt Sara Popa. „Um präventiv zu handeln, kann eine Sexualassistenz oder auch eine entsprechende Therapie ins Auge gefasst werden.“

Das Verhältnis von Nähe und Distanz

Für Thomas Hülse ist wichtig, mit der Behandlung des Themas im Unterricht die Professionalität der künftigen Assistenzpersonen zu stärken. „Von zentraler Bedeutung ist dabei das Verhältnis von Nähe und Distanz“, meint er. „Man darf nicht zu nahe auf die betreffende Person zugehen. Man ist nicht der Freund oder die Freundin. Unangenehme Situationen kann man vermeiden, indem man nicht zu viel Nähe zulässt, ohne deswegen unfreundlich zu sein.“

Nach Abschluss der dreijährigen Ausbildung, zu der zahlreiche Praktika im In- und Ausland gehören, sind die angehenden Pflegekräfte und Heilerzieherinnen und Heilerzieher gut gerüstet, um die Menschen mit Einschränkungen in ihrer gesamten Persönlichkeit wahrzunehmen – mit allen ihren Bedürfnissen und Wünschen.

Herausforderung Corona

Seit Corona hat sich vieles verändert. Ein komplett neues, unvorhergesehenes Lernfeld entwickelte sich aus der akuten Pandemie-Situation, mit ganz neuen Erfahrungen, die die Auszubildenden mit den Klientinnen in der Praxis gestalten mussten. „Abstand zu halten zu anderen Menschen, selbst zu den vertrauten, das war keine einfache Situation. Ein ganz neuer Tagesablauf war plötzlich bestimmend, ohne Werkstatt und Tagesförderung – neue Hygieneregeln im Alltag. Am Anfang der Pandemie kamen von den Schülerinnen noch Rückmeldungen, dass es wirklich schwierig sei, diese neuen Regeln den Klient*innen zu vermitteln. Aber mittlerweile gehört es zum Alltag – sich und andere zu schützen, Abstand zu halten, eine Maske zu tragen. Es war für uns alle hier an der Schule plötzlich eine ganz neue Situation, mit der sich alle engagiert auseinandergesetzt haben“, beschreibt Thomas Hülse die aktuelle Situation.


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