„Ein bisschen ANSTRENGEND war es“

Michael Wunder und Wolfgang Masuk sitzen zugewandt an einem weißen Tisch

Ein Zeitzeuge hat sich Gehör verschafft: Der ehemalige Bewohner der früheren Alsterdorfer Anstalten, Wolfgang Masuck, erzählt seine Erlebnisse im Gespräch mit dem Psychologen Dr. Michael Wunder.

Von 1951 bis 1970 lebt Wolfgang Masuck im Kalmenhof in Hessen, wo er schwer misshandelt wird. Später arbeitet er auf dem Moorhof in Kayhude. Wolfgang Masuck will das Gespräch mit Dr. Michael Wunder über seine Erfahrungen unbedingt. 71 Jahre alt ist der zierliche Mann heute. 2018 hat er Wunder angesprochen auf der Veranstaltung zum Thema „Sie haben uns behandelt wie Gefangene“ – zur Anerkennung der Opfer von Gewalt und Unrecht in der Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie: „Ihr habt mich vergessen. Ich möchte meine Geschichte erzählen.“ Der Psychologe verspricht, das zu korrigieren.

Michael Wunder ist Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und treibende Kraft bei der Aufarbeitung der Vergangenheit der damaligen Alsterdorfer Anstalten, wie die heutige Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA) bis 1987 hieß.

Als der damals 21-Jährige 1970 nach Alsterdorf kam, hatte er seine schlimmsten traumatischen Erlebnisse hinter sich. Am 19. Oktober 1948 wurde er in Hamburg geboren, später zog die Familie in den Taunus. Vom 21. Januar 1951 bis 17. März 1970 lebte er im Kalmenhof in Idstein. Unter dem damaligen Anstaltsleiter prügelten die meist unausgebildeten Erzieher die ihnen anvertrauten Kinder.

„Ich möchte meine Geschichte erzählen“

Wolfgang Masuck erinnert sich an qualvolle Strafen, „wenn ich böse war“. Die Jungen mussten sich nackt ausziehen und in einer Reihe aufstellen. Nacheinander wurden sie in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser getaucht, so lange, dass Wolfgang Masuck dachte, „jetzt muss ich sterben“. Und arbeiten musste er. Stundenlang auf den Knien schrubbte er die Holzböden und bohnerte sie mit Sägespänen, auch an Sonntagen. Einmal trat ihn ein Betreuer mit solcher Wucht gegen den linken Fuß, dass dieser brach. Wolfgang Masuck musste mehrfach operiert werden.

In den Alsterdorfer Anstalten kam er ins Haus Heinrichshöh. Mit etwa 23 Jahren schickte ihn die Psychiaterin Charlotte Preußner-Uhde als Landwirtschaftshelfer auf den Moorhof nach Kayhude, nördlich von Hamburg. Die Anstalt hatte das Gelände 1938 gekauft. Insgesamt 400 Hektar Nutzfläche gehörten damals zu Alsterdorf, auf der die Bewohner arbeiteten und die Anstalt mit Nahrungsmitteln versorgten.

Männer mit Lernschwäche zwischen 22 und 62 jäteten, ernteten, molken, werkelten auf dem Moorhof und lebten zusammen mit der jeweiligen Bauernfamilie. Bis 1989 waren das Klaus und Erna Ingwersen, er Landwirtschaftsmeister, sie Hauswirtschaftsmeisterin, mit ihren drei Kindern. „Ich bin Trecker gefahren, rückwärts, vorwärts“, erzählt Wolfgang Masuck stolz. „Da haben wir früher Rüben und Kartoffeln gepflanzt und so. Mais gab es auch.“ Dazu Schweine und Hühner. „Da hat der Sturm einmal das Hühnerhaus weggefegt. Das haben wir dann neu gebaut.“

Das SchwarzWeißFoto zeigt Wolfgang Masuck 1989 auf dem Moorhof
Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt Wolfgang Masuck 1989 auf dem Moorhof – Fotos: Axel Nordmeier

Im Stall warteten die Kühe. „Ich musste ganz schön früh raus und die Melkmaschine an die Zitzen ranmachen.“ Er unterstreicht das Gesagte mit der rechten Hand, als wolle er ein Ausrufezeichen setzen. „Eingesunken sind wir, es war nass.“ Wie es der Name sagt, lag der Hof im Kayhuder Moor. Zu den Aufgaben der Landwirtschaftshelfer – früher hätte man Knechte gesagt – gehörte es, mittels Gräben den Boden zu entwässern.

Manchmal stritten sich die Hofbewohner, was nicht verwundert, schließlich lebten Männer und Familie auf engem Raum. „Herr Ingwersen war nett. Hat auch geschimpft. Strenge war in Ordnung.“ Wolfgang Masuck war fleißig. Er hat einfach gearbeitet. Erna Ingwersen half er in der Küche, im Haushalt und im Gemüsegarten. „Ein bisschen anstrengend war es“, sagt er bescheiden über sein Berufsleben.

Morgens um fünf mussten die Arbeiter aus den Federn. Ihr Lohn betrug fünf D-Mark pro Woche, ein Taschengeld. Wolfgang Masuck war genügsam, Zigaretten hat er sich gekauft. Wurden die Männer ausgebeutet? Schwer arbeitenden Menschen so wenig zu bezahlen, das wäre heute undenkbar. „Die Ingwersens waren engagiert und haben sogar Ausflüge organisiert für ‚ihre Jungs‘“, erinnert sich der Fotograf Axel Nordmeier, der den Hof aus den 80er-Jahren kennt. Viel Geld hat die Bauernfamilie nicht bekommen von Alsterdorf. Die Landwirtschaftshelfer waren ein eingespieltes Team, mehr noch, mit einigen verband Wolfgang Masuck eine enge Freundschaft. Die Männer arbeiteten im Rhythmus der Natur und meist an der frischen Luft. Keiner von ihnen hätte dieses Leben gegen einen Werkstattarbeitsplatz tauschen wollen. „Die Pädagogik kam zu kurz“, bemerkt Rüdiger Schmiedeler, der persönliche Assistent von Wolfgang Masuck.

Als Rentner hat es Wolfgang Masuck heute gut getroffen. Er lebt – im Moorhof, sehr selbstständig, nur ambulant versorgt. Seit 2003 gibt es den Bauernhof nicht mehr. 16 kleine Apartments stehen nun auf dem idyllisch gelegenen Gelände, 15 haben Terrassen. Wolfgang Masuck wurde für das erlittene Leid aus dem Fonds zur Anerkennung und Hilfe für die Opfer von Gewalt und Unrecht in der Behindertenhilfe entschädigt. Einen großen Fernseher hat er sich gekauft, einen Computer und ein Handy. Arbeiten ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er kümmert sich um die Mülltrennung und beteiligt sich an einem Projekt des Naturschutzbunds Deutschland (NABU), um das Moor zu retten. Wolfgang Masuck hat dafür einen Krötenzaun gebaut.