Sprache ist das wichtigste Mittel in unserem täglichen Miteinander. Sie ermöglicht direkte Kommunikation, hilft uns, Dinge zu unterscheiden, zu- und einzuordnen. Sprache klärt Missverständnisse und schafft Vertrauen.
Bereits im frühen Kindesalter ist die geistige Entwicklung eng mit dem Erlernen von Sprache verknüpft. Über die sprachliche Zuwendung der Eltern lernen die Kleinsten, eine Vorstellung von Dingen und Handlungen zu bekommen sowie ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Doch was ist mit den Kindern, die aufgrund einer Behinderung verzögert Zugang zur Sprache finden? Hier unterstützen Gebärden, die Eltern und therapeutische Begleiter*innen mit ihnen lernen.
Damit wird einer der Grundsteine für die Nutzung von Unterstützter Kommunikation (UK) gelegt, womit alternative Ausdrucksmöglichkeiten gemeint sind, die Lautsprache ergänzen oder ersetzen. Das können Handbewegungen, Gesichtsausdrücke, Bilder oder technische Hilfen sein. „Die Evangelische Stiftung Alsterdorf arbeitet derzeit in einem bereichsübergreifenden UK-Projekt daran, dass Menschen, die unterstützt kommunizieren, in allen ihren Lebensbereichen auf Mitarbeitende treffen, die deren persönliches Kommunikationssystem verstehen und anwenden können. Ein großer Schritt weiter Richtung Inklusion“, sagt Hanne Stiefvater, Vorständin der ESA.
Seit 2015 unterstützt Gesine Drewes in der alsterdorf assistenz west (aawest) Menschen mit geistigen und schwer körperlichen Behinderungen dabei, ihren ganz eigenen Weg zu finden, sich ihrer Umwelt mitzuteilen. Die Expertin für Unterstützte Kommunikation nutzt in ihrer Arbeit insbesondere auch Gebärden – also Handzeichen, die sinnbildlich für bestimmte Dinge, Situationen oder Bedürfnisse stehen. „Wir versuchen, bei der Förderung von Menschen mit ihnen je nach ihren individuellen Möglichkeiten zu kommunizieren“, erklärt Gesine Drewes. „Hierbei sind die verschiedenen Mittel der Unterstützten Kommunikation ein wichtiger Baustein.“
Gebärden: schnell und unmittelbar
Gerade Kinder zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr verstehen eine Menge, haben aber in der Regel selbst nur wenige sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung: „Kinder benötigen eine Vielzahl an Vorbildern und Gelegenheiten, um so etwas Komplexes wie Sprache zu erlernen. Gebärden sind gerade in dieser frühen Phase sehr hilfreich. Sie sind immer verfügbar, denn ich setze meine Hände als Kommunikationsmittel ein. Gebärden sind für Kinder schnell auszuführen“, so Gesine Drewes. „In der Arbeit mit Kleinstkindern mit komplexen Beeinträchtigungen setzen wir Gebärden ein, um deren Spracherwerb gezielt zu fördern. Aber auch Eltern von Kindern ohne Behinderung nutzen Gebärden, etwa um die gemeinsame Bindung zu stärken und früh Freude an der Kommunikation zu vermitteln.“
Also lernen die Kleinsten schon die Gebärdensprache?
„Hier muss man klar unterscheiden“, macht Gesine Drewes deutlich. „In den bereits genannten Fällen werden vereinfachte oder verkürzte Gebärden genutzt. Das sind Handzeichen, die die Kleinen mit ihrer Fingerfertigkeit ausführen können. Sie werden zumeist in Alltagssituationen wie beim Spielen, Essen, Trinken oder beim Zähneputzen parallel zum gesprochenen Wort eingesetzt. Die Gebärdensprache als eigenständige Sprache mit umfangreichem Wortschatz und eigener Grammatik findet in gehörlosen Familien ihre Anwendung, wo Eltern die Gebärdensprache natürlicherweise an ihre Kinder vermitteln.“
Für hörbehinderte Menschen wie Ines Helke, Diplom- Sozialpädagogin bei der aawest und Inklusionsbotschafterin, ist sie ein wichtiger Zugang zu Bildung und Interaktion: „Ich habe erst mit zwanzig Jahren zur Deutschen Gebärdensprache gefunden. Vorher habe ich lautsprachlich kommuniziert. In der Sonderschule waren Gebärden verboten und wir mussten von den Lippen ablesen und sprechen. Der erste Kontakt zur Deutschen Gebärdensprache hat mein Leben nachhaltig positiv geprägt.“
Anwendungsbeispiele: KUGEL und babySignal
„Eltern sind die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Kinder und brauchen beim Erlernen der Gebärden eine gute Anleitung. Nur wenn die Eltern die Gebärden im Alltag kontinuierlich einsetzen, werden ihre Kinder in die Gebärdenanwendung gelangen.“ Davon sind Heike Burmeister und Dorothee von Maydell überzeugt. Gemeinsam mit Dr. Anke Buschmann haben die erfahrenen Logopädinnen am Werner Otto Institut (WOI) KUGEL entwickelt. Der eingängige Name steht für Kommunikation mit unterstützenden Gebärden – ein Eltern-KindGruppenprogramm.
„Wir unterstützen mit KUGEL Eltern, deren Kinder aufgrund ihrer Entwicklungsstörungen nur sehr langsam in die Lautsprache kommen und die nicht wie Gleichaltrige im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren zu sprechen beginnen“, fasst Dorothee von Maydell ihre Arbeit zusammen. Nach der Erfahrung der KUGEL-Entwicklerinnen brauchen die Eltern eine längere, kontinuierliche Begleitung, um das Gebärden wirklich im Alltag umzusetzen. „Kinder fangen nur dann an, Gebärden zu verstehen und später selber einzusetzen, wenn ihre Eltern sich mit dieser zunächst ungewohnten Kommunikation identifizieren und sie mit Engagement und Freude leben“, ergänzt Heike Burmeister. KUGEL setzt dabei neben der Vermittlung von konkretem Rüstzeug vor allem auf die Hilfe zur Selbsthilfe. In den sieben Modulen des Programms bekommen die Eltern Unterstützung bei der Auswahl und spielerischen Einführung erster Gebärden. Sie erarbeiten gemeinsam mit anderen Eltern, wie sie Gebärden beim Singen, Spielen und im Familienalltag verwenden können. Darüber hinaus bieten die Treffen mit anderen Eltern entwicklungsverzögerter Kinder Raum, sich über ihre ureigenen Erfahrungen und Herausforderungen auszutauschen. „Bei KUGEL lernen Eltern oft erstmalig andere Familien mit Kindern kennen, die in ihrer Entwicklung eingeschränkt sind. Das Gefühl, nicht allein zu sein, stärkt und motiviert sie sehr“, sagt Dorothee von Maydell. „Viele Eltern haben anfänglich Angst, der Einsatz der Gebärden könnte die Sprachentwicklung ihrer Kinder hemmen. Durch das KUGEL Programm erfahren die Eltern: Das Gegenteil ist der Fall. Die Gebärden erleichtern die Kommunikation, und das Interesse ihrer Kinder am Dialog nimmt zu. Gebärden bilden die Brücke zum Wort und fördern die Sprachentwicklung.“
Auch für Kristina Enghusen haben Gebärden einen hohen Wert im gemeinsamen Alltag mit ihren Kindern. Die Sozialpädagogin an der fachschule für soziale arbeit der ESA nutzt in der Frühkommunikation mit ihren beiden Söhnen babySignal, ein System von Gebärden für die Kommunikation mit Kleinkindern. Das Kursmodell stellt die Freude an der gemeinsamen Kommunikation zwischen Eltern und Kind in den Mittelpunkt. „Die im babySignal-Kurs gezeigten Gebärden und Spiele sind als Angebote und nicht als frühes Lernprogramm zu verstehen“, sagt Kristina Enghusen. „Für mich sind sie eine Form zur Stärkung der Selbstwirksamkeit und der Beziehung von uns Eltern mit unseren Kindern.“ Bereits mit ihrem jetzt vierjährigen Sohn hat Kristina Enghusen die einfachen Gebärden eingeübt – ganz spielerisch, ohne Druck und mit ganz viel Spaß. „Das Schöne am Gebärden ist die Vorhersehbarkeit für die Kinder. Durch sie kann ich ankündigen: Ich nehme dich jetzt hoch. Wir gehen raus. Achtung, es wird laut!“, schildert Enghusen ihre Erfahrungen. „Das eigene Gebärden nimmt den Kindern auch den Frust, wenn sie ab dem ersten Lebensjahr schon viel verstehen, sich aber noch nicht richtig über Sprache mitteilen können. Es geht beim Gebärden also um die Verfeinerung unserer Kommunikation und um mehr Achtsamkeit.“ Auch der große Sohn hat das Gebärden für sich übernommen und kommuniziert jetzt ganz selbstverständlich mit seinem zehn Monate alten Bruder.
Alle gezeigten Ansätze unterstützen das Verständnis von Gebärden in der Gesellschaft insgesamt.
››› Info
KUGEL – Projekt für nicht oder kaum sprechende Kleinkinder
Kinder mit Beeinträchtigungen werden von ihren Eltern teilweise nur schwer auf sprachlichem oder anderem Weg erreicht. Mit gravierenden Folgen: Die Beziehung der Kinder zu ihren Eltern kann stark belastet werden. Diese Kinder zeigen häufig Entwicklungsverzögerungen bei der Motorik, der Sprachentwicklung und der Intelligenz. Die unterstützende Gebärdensprache ist ein erprobtes Mittel für eine bessere Verständigung, sie muss jedoch erlernt werden. Mit 5.000 € können 25 Familien ein Eltern-Kind-Kommunikationstraining absolvieren.
Weitere Informationen zu: Kommunikation mit unterstützenden Gebärden – ein Eltern-Kind-Gruppenprogramm (KUGEL).