Philip Oprong Spenner

Urvertrauen und glückliche Begegnungen

Von einem auf den nächsten Moment musste sich Philip Oprong Spenner, auf sich allein gestellt, auf den Straßen von Nairobi durchkämpfen. Er war gerade neun Jahre alt. Und dennoch sieht er diesen Augenblick rückblickend als Aufbruch.

Herr Spenner, Ihr Weg begann als Waise in einem Dorf in Kenia und führte über das Dasein als Straßenkind in der Großstadt Nairobi und verschiedene Heime nach Deutschland, wo Sie eine Hochschulausbildung absolviert haben und heute als Lehrer in einer Stadtteilschule in Hamburg arbeiten. Ein Leben voller Aufbrüche, Umbrüche und Veränderungen. Welcher Aufbruch hat Sie rückblickend am stärksten geprägt?

Ich war neuneinhalb Jahre alt, als mein Leben als eines von 75.000 Straßenkindern in Nairobi begann. Ich habe jetzt selbst eine Tochter in diesem Alter. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, wenn sie von heute auf morgen komplett auf sich gestellt wäre und allein klarkommen und überleben müsste. Aber damals habe ich es geschafft und heute bin ich dort, wo ich bin. Und deshalb war das für mich bei aller Härte ein wichtiger Aufbruch.

Sie wurden von Ihrer Tante in der Großstadt allein gelassen und mussten sich durchschlagen. Was waren Ihre ersten Schritte?

Als Straßenkind hat man nicht Zeit, sich Gedanken zu machen, was passieren könnte. Ich habe nur an den nächsten Schritt gedacht, was mir, von heute aus betrachtet, sehr geholfen hat. Es ging immer nur darum, die nächste Mahlzeit zu bekommen, den nächsten Tag zu überstehen. Natürlich hatte ich so etwas wie einen inneren Kompass. Ich hatte das Urvertrauen, dass alles gut wird. Aus kleinen Erfolgen konnte ich neue Motivation beziehen, um weiterzumachen. Etwa, dass es gelang, etwas Essbares zu klauen, ohne erwischt zu werden. Oder sich nicht zu vergiften, wenn ich Essen auf der Müllhalde gesucht habe. Oder nicht, wie viele andere, zu Drogen zu greifen.

„Wir sollten uns als Handelnde sehen, um mit schwierigen Situationen fertigzuwerden“

Sie sprechen von Urvertrauen. Woher kann das in einer solchen Lebenssituation stammen?

Bereits mit anderthalb habe ich meine Eltern verloren und kam zu einer Tante, die selbst zwei kleinere Kinder hatte. Für sie war ich ein Maul mehr, das gestopft werden musste. Ich musste für die Kleineren sorgen, kochen, sie baden und so weiter. Weil ich es nie richtig gemacht habe, gab es Prügel. Meine Tante war sehr arm und musste sich auch verkaufen. Ich kann ihr dennoch verzeihen, weil sie alles zusammengekratzt hat, um mir eine Art Grundschulbildung zu ermöglichen.

Bücher konnten wir uns nicht leisten, nur die Bibel, die damals kostenlos verteilt wurde. Durch die Bibel lernte ich zu lesen und das Lesen zu lieben. Alle diese Geschichten, die von der zweiten Chance im Leben und vom Aufstieg aus den unmöglichsten Situationen handelten, hatten einen roten Faden: die Hoffnung trotz vermeintlich auswegloser Situationen. Und das gab mir das Urvertrauen in ein höheres Wesen, das einen begleitet und hilft, nicht aufzugeben.

Philip Oprong Spenner
Philip Oprong Spenner – Fotos: Axel Nordmeier

Trotz des täglichen Kampfes ums Überleben hat diese Hoffnung gehalten?

Ja, aber es waren natürlich auch glückliche Zufälle und vor allem Begegnungen, die mich schließlich hierhergeführt haben. So kam ich irgendwann in ein Waisenheim, wo ich als Einziger ugandische Wurzeln hatte. Das führte zu Diskriminierung aufgrund meiner anderen ethnischen Herkunft. Ich musste Wäsche waschen, für die anderen beim Kochen mithelfen. Dort absolvierte zu dieser Zeit eine junge Irin ihr Freiwilliges Soziales Jahr und hat dieses Unrecht beobachtet. Und sie ließ es nicht stehen – sie hat mir Unterricht gegeben und durchgesetzt, dass ich wieder zur Schule gehen konnte.

Wie wäre Ihr Leben ohne die Hilfe von anderen verlaufen?

Ich hatte meinen inneren Kompass, aber ich hatte auch das Glück, dass ich immer wieder Menschen auf meinem Weg begegnet bin, die bereit waren, mir zu helfen. Nachdem die Studentin wieder weg war, war ich wieder nur geduldet.

Ich war aber von Nutzen, weil ich in der Schule so gut war, dass man mit mir als Vorzeigeobjekt Spenden sammeln konnte. Und in diesem Zusammenhang ergab sich auch die Patenschaft mit einem Hamburger Arzt, der meine weitere Schulbildung finanziert hat. Ich habe selbst etwas aus diesen Chancen gemacht, aber ohne diese Menschen hätte ich es nicht schaffen können.

Bei Ihrer Arbeit als Lehrer geben Sie Ihre Erfahrungen an junge Menschen weiter, die in einer anderen Gesellschaft aufwachsen und aus ganz anderen Gründen benachteiligt sind. Wird Ihre Geschichte von den Schüler*innen als Motivation wahrgenommen?

„In meinem Umgang mit den Kindern geht es darum, ihnen Vertrauen zu schenken – Vertrauen in diese Fähigkeiten, die sie mitbringen.“

Kinder sind kein leeres Blatt, das vollgeschrieben wird. Sie bringen Fähigkeiten mit. In meinem Umgang mit den Kindern geht es darum, ihnen Vertrauen zu schenken – Vertrauen in diese Fähigkeiten, die sie mitbringen. Damit sie sie nutzen, um sich selbst zu helfen. Sie brauchen das Vertrauen, dass sie auf ihrem Weg auch Leute finden, die ihnen helfen, Eltern oder Freunde. Und das Vertrauen, diese Netz­werke auch zu nutzen und sich auf sie zu verlassen – diese Hilfe also anzunehmen. Aber vor allem sollen meine Schüler*innen das Vertrauen mitnehmen, dass, egal was passiert, alles gut wird unter der einen Bedingung, dass sie weiterkämpfen.

Viele Schüler*innen kommen aus Situationen, in denen der Start ins Leben sehr schwer war, wenn auch unter ganz anderen Umständen in einem reichen Land wie Deutschland. Da ist von Haus aus erst einmal kein Urvertrauen vorhanden. Wie weit können Sie das im Nachhinein vermitteln?

Wichtig ist, dass sie sich nicht als Opfer betrachten. Wir sollten uns immer als Handelnde sehen, um mit schwierigen Situationen fertigzuwerden. Ich habe Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Menschen, habe Respekt, dass Beeinträch­tigungen oder Behinderungen ihr Leben prägen können. Aber wir leben in einer Gesellschaft mit ganz vielen Chancen, in der Bildung kostenlos ist und es so viele Möglichkeiten gibt, um die uns die Kinder in vielen Ländern nur beneiden können.

Wenn Schüler*innen diese Chancen nicht nutzen, die Schule schleifen lassen oder abbrechen – wie gehen Sie damit um? Ärgern Sie sich darüber?

Objektiv betrachtet erleben diese Kinder nicht das, was ich erlebt habe. Doch das subjektive Empfinden ist vergleichbar. Die Einsamkeit, als es schon wieder Nacht wurde und ich die Nacht allein mit mir, ungeschützt, verbringen musste – die ist durchaus vergleichbar. Etwa wenn ein Kind Tag für Tag erleben muss, dass es sich das nicht leisten kann, was für die anderen Kinder in der Umgebung selbstverständlich ist. Es geht darum, diesen Kindern klarzumachen: Ja, ich verstehe deine Lage, aber du kannst immerhin in die Schule gehen und deine Chancen dort nutzen. Aber ich wäre der Letzte, der nicht Verständnis dafür hätte, wenn manche Kinder das nicht schaffen und aufgeben. Es ist immer eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, und glückliche Begegnungen sind da sehr wichtig.


››› Zur Person

Philip Oprong Spenner, 1979 in Kenia geboren, ist Lehrer an einer Hamburger Stadtteilschule. Er wurde in einem kenianischen Dorf geboren. Seine Eltern starben früh und er musste einen Teil seiner Kindheit und Jugend obdachlos auf den Straßen von Nairobi verbringen. Über die Patenschaft eines Hamburger Arztes kam er nach Deutschland, wo er seine Schul- und Hochschulausbildung abschloss. Er spricht sechs Sprachen und leitet den Verein Kanduyi Children zur Förderung von Jugendlichen in Kenia. In dem Buch „Move on up – Ich kam aus dem Elend und lernte zu leben“ (Ullstein Verlag) schilderte er 2011 sein Leben.