„Etwas Neues gestalten“

Mirjam Vinogradova

Im Säuglingsalter verlor Mirjam Vinogradova infolge einer Hirnhautentzündung ihre Fähigkeit zu hören. Heute studiert die 39-Jährige Gesundheits- und Sozialmanagement an der Hamburger Fernhochschule in Alsterdorf. Angemessene Unterstützung wegen ihrer Gehörlosigkeit musste sie sich bei den Kostenträgern erst erkämpfen.

Frau Vinogradova, wie war Ihr beruflicher Werdegang? Studieren Sie berufsbegleitend an der Hamburger Fernhochschule (HFH)?

Mein beruflicher Weg war turbulent: Während ich in meinem Ausbildungsberuf als Informatikerin gearbeitet habe, weckte die ehrenamtliche Tätigkeit für einen Gehörlosenverband mein Interesse für den Verwaltungsbereich. Als angestellte Büroleiterin beim Gehörlosenverband Hamburg e.V. habe ich mir dann den Status einer Verwaltungsangestellten erarbeitet. Um meine Fähigkeiten zu erweitern, habe ich das berufsbegleitende Bachelorstudium Gesundheits- und Sozialmanagement an der HFH begonnen. Derzeit bin ich in Berlin in der Verwaltung einer inklusiven bilingualen Kindertagesstätte für gehörlose und hörende Kinder tätig, in der Lautsprache und Gebärdensprache verwendet werden.

Sie haben als Baby nach einer Hirnhautentzündung Ihr Hörvermögen verloren. Wie kommunizieren Sie mit Hörenden? Lesen Sie von den Lippen ab?

Die Formulierung „Ablesen von den Lippen“ ist irreführend: Viele Mundbewegungen für verschiedene Wörter sind kaum zu unterscheiden. Unter optimalen Bedingungen kann man etwa 30 Prozent des Gesprochenen verstehen, 70 Prozent müssen erraten werden, was häufig zu Missverständnissen führt. Das „Absehen vom Mund“ – so die treffendere Bezeichnung – eignet sich für kurze Gespräche zwischen Gehörlosen und Hörenden, die ihre Lippen deutlich bewegen. In unserer Kita müssen alle Kolleginnen die Gebärdensprache beherr­schen. Bei wichtigen Gesprächen, an denen Gehörlose und Hörende teilnehmen, ziehen wir Gebärdensprachdolmetschende oder Kommunikationsassistentinnen für Gebärdensprache hinzu. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden liegt in der besseren Ausbildung der Dolmetscher*innen, deren Einsatz aber teurer ist. Neben diesen nutze ich in meinem beruflichen Alltag auch Mitschreibkräfte und Telefonvermittlungsdienste als Arbeitsassistenzen.

Mirjam Vinogradova
Mirjam Vinogradova – Fotos von Privat

Was verbinden Sie damit aufzubrechen?

Aufbrüche können freiwillig oder unfreiwillig sein. Persönliche Ziele und Träume bringen uns dazu, uns auf den Weg zu etwas Neuem zu machen. Auch wenn wir Leid erfahren und beispielsweise unfreiwillig Abschied nehmen müssen, kann das die Richtung unseres Lebens ändern. Leben bedeutet für mich stetige Entwicklung.

Welche Aufbrüche gab es in Ihrem Leben?

Ich habe viele Aufbrüche erlebt, freiwillige und unfreiwillige. Ein maßgeblicher Aufbruch, der mein Leben auch in Zukunft beeinflussen wird, war es, das Studium zu beginnen.

Gab es dafür spezielle Auslöser?

Ich hatte den Eindruck, dass wir uns als Gesellschaft in einer extrem spannenden Phase befanden und immer noch befinden. Im Sozial- und Gesundheitswesen gibt es tiefgreifende Veränderungen. Eine nicht auf Gewinn ausgerichtete Organisation wie der Gehörlosenverband Hamburg e.V. strebt heute nach Wirtschaftlichkeit, weil er einem starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist. Das Studium des Gesundheits- und Sozialmanagements qualifiziert mich genau für die spannenden Arbeitsbereiche, die infolge dieser Veränderungen entstehen. Aber auch noch für ein anderes Gebiet: Schon lange beschäftige ich mich mit der Gehörlosenkultur. Gehörlose Menschen werden in Politik, Kultur und Bildung nach wie vor nicht gleichberechtigt behandelt. Dort will ich mich weiter engagieren.

Gab es Vorbilder, an denen Sie sich orientiert haben?

„Gehörlose Frauen können in Führungspositionen aufsteigen“

Eines meiner wichtigsten Vorbilder ist die gehörlose Professorin Sabine Fries, die an der Hochschule für angewandte Wissen­schaften in Landshut Gebärdensprachdol­metschen unterrichtet. Ihr Weg zeigt, dass gehörlose Frauen in Führungspositionen aufsteigen können. Das strebe ich auch an.

Was hat Sie angespornt und wer hat Sie unterstützt?

Meine grundlegende Motivation besteht darin, die Frage zu beantworten, was die Mehrheitsgesellschaften von der Gehörlosenkultur lernen können. Ich möchte mich mit meiner Gehörlosigkeit in die Gesellschaft einbringen und sie mitgestalten. Dank der großzügigen Spende einer Stiftung konnte ich Gebärdensprachdolmetscher*innen bezahlen, ohne die ich nicht hätte studieren können. Eine wunderbare Unterstützung war es auch, dass meine Frau mir zugehört und mich verstanden hat, wenn ich fast verzweifelt bin.

Welches Ziel hatten Sie dabei vor Augen?

Mein Nahziel ist es, mein Studium abzuschließen, damit ich mich beruflich weiter entfalten kann.

Welchen Herausforderungen mussten Sie sich stellen?

Seit meiner Kindheit bin ich Schwierigkeiten aufgrund meiner Gehörlosigkeit gewohnt. Die Hürden, die sich während meines Studiums auftürmten, haben mich trotzdem überrascht: Mein Antrag auf Kostenübernahme für kommunikative Hilfen wurde immer wieder abgelehnt und erst nach kräftezehrendem Kampf und mithilfe einer Anwältin zum vierten Semester bewilligt. Ich musste mich als einzige Gehörlose unter hörenden Mitstudentinnen und Dozentinnen fast ohne Kommunikationshilfen durch die ersten drei Semester kämpfen – abgesehen von den erwähnten spendenfinanzierten. Nach der Kostenübernahme erforderte es viel Zeit und Energie, die Assistenzleistungen zu organisieren. Alles das hat meine Studienzeit unnötig verlängert. Fest steht: In einem hörenden Studienumfeld fehlen auf Gehörlose zugeschnittene Beratungsangebote und Lern- und Kommunikationsstrategien. Immer wieder Energie zum Weitermachen aufzubringen war für mich letztendlich die größte Herausforderung.

Was planen Sie für Ihre Zukunft?

Wenn ich mich etwas von den Anstrengun­gen des Studiums erholt habe, werde ich mit meinem Arbeitgeber über die Möglichkeit reden, eine Führungsaufgabe in meinem Tätigkeitsbereich zu übernehmen. Ansonsten wäre mein Traumjob eine Spitzenposition in der Teilhabeberatung oder im Bildungsbereich. Und: Ich wünsche mir, meine Kraft nicht mehr beim Verdauen von Altem verbrauchen zu müssen. In Zukunft möchte ich etwas Neues gestalten.


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Studienzentrum Hamburger Fern-Hochschule