„Zuerst Friede, dann die Probleme“

Kennen sich mit der Lösung von Konflikten aus: v.l.n.r. Christina Bornhöft, Christine Bargstedt, Waltraut Greiser, Claudia Orgaß - Foto von Axel Nordmeier

Wenn Nachbarn im Bezirk Wandsbek streiten, können sie sich an das Projekt Nachbarschaftszirkel der alsterdorf assistenz ost wenden. Hier entwickeln die beteiligten Personen gemeinsam Lösungen – unterstützt durch unparteiische Vermittler*innen. Nach Verzögerungen durch Corona legt das Team jetzt richtig los.

Sie wollen sich im Homeoffice konzentrieren und der Nachbar hämmert und bohrt den ganzen Tag? Sie können kein Fenster mehr öffnen, ohne die Düfte des Imbisses um die Ecke zu riechen? Wenn Menschen auf engem Raum zusammenleben, auch aus unterschiedlichen Kulturen, steigt oft die Zahl der Konflikte. Doch diese können gelöst werden. Für die 18 Wandsbeker Stadtteile bietet das Projekt Nachbarschaftszirkel der alsterdorf assistenz ost (aaost) seit Kurzem an, bei Streitigkeiten in Wohnhaus, Straße oder Viertel zu vermitteln.

Friedensstiftende Kreise

Das Team besteht aus den Pädagoginnen Claudia Orgaß und Christina Bornhöft sowie aus zwei Honorarkräften, die projektweise arbeiten. Das Quartett setzt ein aus Nordamerika stammendes, besonderes Verfahren ein, ein sogenanntes Kreisverfahren. Seit mehr als 30 Jahren gewinnen diese in der sozialen Arbeit an Bedeutung als „peace making circles“ (wörtlich: „friedensstiftende Kreise“). In Deutschland bietet der Berliner Kooperationspartner der aaost, die JaKuS gGmbH – die Abkürzung steht für Jugendarbeit, Kultur und soziale Dienste –, seit 2015 Nachbarschaftszirkel an. Foto oben v.l.n.r. Christina Bornhöft, Christine Bargstedt, Waltraut Greiser, Claudia Orgaß – Fotograf Axel Nordmeier.

„Nur gemeinschaftlich ist eine nachhaltige und damit tragfähige Einigung möglich“

2016 stellten Mitarbeiterinnen der JaKuS gGmbH das Verfahren vor Hamburger Trägern der sozialen Arbeit vor. 2018 haben sich zwei Träger der Jugendhilfe mit der Idee, Nachbarschaftszirkel in Hamburg durchzuführen, an die Leiterin des Bereichs Kinder, Jugend und Familien der aaost, Dagmar Götz, gewandt. Diese beauftragte Claudia Orgaß, ein Konzept auszuarbeiten. Zwar sprangen beide Jugendhilfeträger wieder ab, aber die Pädagogin war von der Idee begeistert und passte das Verfahren an die Anforderungen der aaost als Träger der Eingliederungshilfe an. Es gilt ein weiter Inklusionsbegriff: Nicht nur Menschen mit Behinderung sollen teilnehmen können und auch Geld und Sprache spielen keine Rolle. Die Zirkel sind kostenfrei, finden in der Nachbarschaft statt und wenn nötig beteiligen sich Dolmetscherinnen. Seit April 2020 fördert die Aktion Mensch das Projekt.

Auseinandersetzungen sind Angelegenheiten der Gemeinschaft

Claudia Orgaß, ab August 2020 unterstützt von Christina Bornhöft, hat zunächst ein Netzwerk aufgebaut. Die Pädagoginnen haben Kontakte zu Wohnungsgenossenschaften und Stadtentwicklungsfirmen geknüpft sowie das Verfahren innerhalb der aaost bekannt gemacht. Die beiden Frauen haben Fortbildungen besucht und den Internetauftritt dazu erstellt, um für das Projekt zu werben. Mit Christine Bargstedt und Waltraut Greiser haben sie zwei geeignete Honorarkräfte zur Unterstützung gefunden. Mindestens zwei Vermittlerinnen sollten einen Zirkel moderieren. Auseinandersetzungen sind Angelegenhei­ten der Gemeinschaft – so lautet die Grund­annahme. „In den Zirkeln wird keine Lösung von außen aufgedrückt“, erklärt Orgaß. „Nur gemeinschaftlich ist eine nachhaltige und damit tragfähige Einigung möglich.“ Ziel des Verfahrens ist es, die Fähigkeiten der Teilnehmenden zu stärken. „Wir wollen das Gute, das in jedem Menschen vorhanden ist, anregen und seine Bereitschaft, eine aktive Rolle im persönlichen Konflikt zu übernehmen.“ Die Gesprächsrunde soll den Blickwinkel auf den Streit ändern, einfach dadurch, dass man etwas über den anderen erfährt. „Manchmal entdeckt man Gemeinsamkeiten: Ach, der joggt auch, geht einem beispielsweise durch den Kopf“, ergänzt Bornhöft. „Und schon schwindet ein Stückchen Anonymität.“

Ausgehandelte Werte bilden die Vertrauensbasis

Wichtig ist es, den Kreis intensiv vorzubereiten. Mit allen Teilnehmer*innen führen die Moderatorinnen Einzelgespräche. Diese dienen dazu, dass alle vorher so viel wie möglich von ihrem Ärger loswerden können, und sollen zudem Vertrauen in Team und Verfahren erzeugen. Der Zirkel selbst beginnt mit einer Vorstellungsrunde, Regeln und Ziele werden besprochen. „Bei der Frage ‚Was ist allen für ein gutes Gespräch wichtig?‘ geht es um Werte“, erklärt Bornhöft. Gemeinsam im Zirkel ausgehandelte Werte bilden die Vertrauensbasis für das Gespräch über den eigentlichen Konflikt: „Zuerst Friede, dann die Probleme“, bringt es der österreichische Sozialarbeiter und Autor Ed Watzke auf den Punkt. Weiter geht es mit Fragen wie: Welche Bedürfnisse haben die Mitwirkenden? Wie ist die Stimmung in der Nachbarschaft? Am Ende tragen die Anwesenden Ideen und Lösungsansätze zusammen und erstellen einen Aktionsplan. Ein Folgezirkel kann prüfen, ob Absprachen funktionieren.

Konfliktlösung auf Augenhöhe

In Berlin haben Nachbarschaftszirkel Lösungen für Konflikte gefunden, die völlig außerhalb der Vorstellung der professionellen Akteure sozialer Arbeit liegen. „Die Zirkel sind ein geniales Mittel zur Stimmungsverbesserung“, so Orgaß. „Es nehmen Bezirksamtsmitarbeiterinnen oder Stadteilpolizistinnen teil, aber nie in ihrer Funktion, sondern auf Augenhöhe. Die Leute merken, die kümmern sich.“ Das Ergebnis: Die gegenseitige Ablehnung löst sich auf.

Ihren ersten Auftrag haben die Frauen inzwischen. Vorgespräche führen sie, wenn möglich, digital, sonst mit Abstand und Maske. Versuche, Nachbarschaftszirkel vollständig online durchzuführen, sind daran gescheitert, dass nicht jeder der Beteiligten einen Computer und WLAN hat, die Gespräche wären also nicht barrierefrei. Der erste gerade in Vorbereitung befindliche Zirkel wird voraussichtlich im April stattfinden. „Wir halten uns an die Hygienevorschriften. Runden mit um die zehn Teilnehmenden können ohne Probleme in Turnhallen stattfinden oder, wenn es das Wetter erlaubt, in einem Garten“, erklärt Claudia Orgaß. Ihr Appell: „Melden Sie sich, bevor der Ärger zu groß wird!“ Und: So­lange noch kein Andrang herrscht und die Kapazität es zulässt, vermitteln die engagierten Frauen aus Wandsbek auch gern bei Hamburger*innen in anderen Bezirken.


››› Kontakt

Claudia Orgaß, Projektleitung, Mobil: 0173 216 89 34
Christina Bornhöft, Projektkoordination, Mobil: 0162 279 41 28
E-Mail:
www.nachbarschaftszirkel-wandsbek.de