Direkt neben der St. Nicolaus-Kirche der Evangelischen Stiftung Alsterdorf entsteht ein Lern- und Gedenkort, der über das verachtende Menschenbild der Nationalsozialisten im Rahmen der Geschichte der Stiftung informieren soll. Mehr noch – es wird ein Ort der lebendigen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Das ist der erste Schritt eines noch umfassenderen Projekts: der „Straße der Inklusion“. Anhand historischer Gebäude soll die Geschichte der Stiftung mit dem jeweiligen Verständnis von Inklusion nachvollziehbar werden und der Weg zur Inklusion anhand der Einbeziehung moderner Gebäude weitererzählt werden.
Die Entscheidung ist getroffen: Das Altarbild kommt raus. Raus aus der Kirche, in der es seit 1938 zu sehen war. Ein Bild, das einem unmenschlichen Menschenbild Ausdruck verlieh, für die dunkelste Zeit in der Geschichte der damaligen Alsterdorfer Anstalten steht und jetzt zum Mittelpunkt eines Lern- und Gedenkorts werden soll.
„Das Altarbild wird ‚ans Licht‘ gebracht – im Sinne der Verantwortung für die eigene Geschichte“
Was macht dieses Bild so problematisch? 15 Menschen sind um den gekreuzigten Jesus gruppiert. Zwölf von ihnen bilden eine heilige Gemeinschaft, symbolisiert durch einen goldenen Heiligenschein. Die drei anderen werden als Hilfsbedürftige dargestellt: ein Kind, das auf dem Arm einer Frau sitzt, ein Jugendlicher und ein älterer Mann. Sie tragen keinen Heiligenschein. Sie gehören also nicht dazu. Sie sind zwar geduldet und werden gehalten, sind aber nicht gleichberechtigt.
Die Darstellung mit der ausgrenzenden Botschaft stammt aus der Zeit, als die damalige Anstaltsleitung bereitwillig an den Euthanasieaktionen mitwirkte, die auf die Tötung von „unwertem Leben“ abzielte. Nach heutigem Stand wurden an die 300.000 Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen durch die Nationalsozialisten bis 1945 ermordet. Allein aus Alsterdorf wurden 630 Menschen mit Behinderung abtransportiert, 513 von ihnen nachweislich ermordet.
Aus der eigenen Aus der eigenen Geschichte lernen
Wie kann man gemeinsam Gottesdienste vor einem Altarbild feiern, das ein Menschenbild zeigt, welches vollkommen konträr zu einem inklusiven Menschenbild steht? Ein Bild, das die Kirche dominiert, sich aber nicht einfach abhängen ließ, weil es damals als Sgraffito direkt in den noch feuchten Wandputz gemalt wurde – und das man eigentlich nur zusammen mit der Wand herausreißen konnte. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf setzt sich schon seit vielen Jahren offen und kritisch mit ihrer Geschichte auseinander. Daher soll das Altarbild nicht versteckt, sondern bewusst in die Öffentlichkeit – „ans Licht“ – gebracht werden im Sinne der Verantwortung für die Geschichte und den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft.
In diesem Frühjahr wurde das Bild nun herausgenommen. Oder besser: herausgeschnitten. Denn es wird nicht zerstört, sondern Teil eines künftigen Lern- und Gedenkortes, der die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stiftung in der NS-Zeit über die bisherige Arbeit hinaus verstärken möchte – mit dem Bildmotiv und mit den grausamen Taten, die in dem darauf dargestellten Menschenbild wurzelten.
Ein Ort der Erinnerung und Auseinandersetzung
Das gesamte Wandstück, auf dem sich das Altarbild befindet, wird aus dem Altarraum geschnitten und draußen neu aufgestellt. „Um die Monumentalität des Bildes zu dämpfen, wird es halb im Boden versenkt und schräg zur Achse der Kirche versetzt vor dem Chor in einer Grube aufgestellt“, erklärt der Architekt Axel Philipp Loitzenbauer, der die Sanierung der Kirche und den Lern- und Gedenkort geplant hat. „Die Rückseite des Wandstücks aus Backstein zeigt dann zum Chor und das problematische Bild von der Kirche weg. Vor die zur Kirche weisende Rückseite wird eine Glasfläche mit den bekannten Namen der Euthanasieopfer aus Alsterdorf gesetzt. Diese Namen wird man aus der Kirche durch den Chor ahnen können, denn das freigeschnittene Wandstück wird wieder verglast, wie es schon vor dem Umbau von 1938 gewesen war. So wird auch der Gesamteindruck der Kirche wieder heller und einladender.“
„Die neue Gestaltung soll das Gedenken an die Ermordeten wachhalten“
Auf einer Bilderwand werden die erhaltenen Porträtbilder der Ermordeten zu sehen sein. „Sie hatten nicht nur einen Namen, sie hatten auch ein Gesicht, das wir zeigen wollen“, erklärt Dr. Michael Wunder, der das Beratungszentrum in Alsterdorf leitet und die Erinnerungsarbeit in der Stiftung seit Jahrzehnten vorantreibt.
Besucher*innen des künftigen Lern- und Gedenkorts werden viele Angebote zur Information finden. So wird man auf Tafeln über die Biografien von Tätern und Opfern lesen können und vertiefte Informationen über die Euthanasiegeschichte der Stiftung und Hamburg erhalten. Eine Vitrine soll von Schülerinnen und Schülern der benachbarten Bugenhagenschule der ESA bespielt und ständig verändert werden – als Zeugnis einer laufenden Auseinandersetzung mit dieser Geschichte der Ausgrenzung von Menschen, die heute in Alsterdorf so fern und doch so nah wirkt.
Der Beginn einer Straße der Inklusion
Im Frühjahr 2022 soll der neue Lern- und Gedenkort fertiggestellt sein. Er wird in den kommenden Jahren eingebettet werden in ein noch umfassenderes Projekt der Stiftung: die „Straße der Inklusion“. Sie soll anhand der auf dem Stiftungsgelände vorhandenen historischen Gebäude die Entwicklungsgeschichte der Inklusion aufzeigen – also den Umgang und die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung im Rahmen der Geschichte der Evangelischen Stiftung Alsterdorf – und damit beispielhaft auch für unsere Gesellschaft.
Denn die lässt sich auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf handfest sehen, spüren und erfahren. Eine Reihe von historischen Bauwerken ist erhalten, wenn auch zum Teil in stark veränderter Form: vom Fachwerkhaus, in das der Gründer Heinrich Sengelmann 1863 mit seinen ersten „Zöglingen“ einzog, über das eher an ein Sanatorium erinnernde, mehrfach umgebaute „Michelfelder Haus“ und die „Alte Verwaltung“ von 1903 bis zur ehemaligen Großküche von 1912, der heutigen „Kulturküche“. Diese Bauwerke stehen unter Denkmalschutz, repräsentieren jedes für sich aber auch den Wandel, der sich im Umgang mit Menschen mit Behinderungen vollzogen hat – von der „Betreuung von Hilfsbedürftigen“ über die katastrophale Ausgrenzung und Ermordung bis hin zu Integration und Inklusion. Ziel ist es, den ursprünglichen Charakter der Gebäude wieder herauszuarbeiten, gleichzeitig aber eine lebendige und zukunftsweisende inklusive Nutzung zu ermöglichen.
„Wie in einem archäologischen Prozess wollen wir die Geschichte der Gebäude freilegen“, erklärt Dr. Michael Wunder. „Dabei soll die ursprüngliche Form der Gebäude angesichts der vielen Umnutzungen und Entstellungen vorsichtig wieder zum Vorschein gebracht werden. Sie alle sind ausdrucksstarke Zeugnisse einer wichtigen Geschichte, die wir zum Sprechen bringen möchten.“ Die Straße der Inklusion wird also auch in Zukunft fortgeschrieben und weitergegangen.
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Weitere Informationen und Neuigkeiten auch in Gebärdensprache rund um das Projekt „Straße der Inklusion“ finden Sie auf der Seite Straße der Inklusion – Von der Sonderwelt zur Teilhabe.