Haltung gibt Halt!?

Foto von Prof. Dr. Dr. Alexander Brink

Über echte Werte und bloße Augenwischerei

Haltung ist eine Einstellung. Unsere innere Überzeugung. Wer eine Haltung hat, der bewahrt gerade in unsicheren Zeiten – wie es so schön heißt – die Contenance. Zu seinen Überzeugungen zu stehen tut gut. Man spürt förmlich, dass Achtsamkeit und Besinnung unser Selbstbewusstsein stärken. Und das strahlen wir dann auch aus. Wir werden als ehrlich, authentisch und berechenbar wahrgenommen. Als Mitarbeiterin oder Kundin sind wir gerne gesehen. Das schafft Vertrauen in das Miteinander, in die Kooperation, in die Wirtschaft. Blickt man in die Vergangenheit, so gewinnt man allerdings zunehmend den Eindruck, dass mit der Haltung einiges im Argen liegt. Die reine Wettbewerbsökonomie führte zu einer ungebremsten Wachstumseuphorie. An wenigen Stellen wie bei Wirecard oder Volkswagen platzt die Blase. Kritiker sagen heute im Rückblick, wir seien zunehmend fremdbestimmt und die Ökonomisierung durchdringe immer stärker unsere Lebenswelt.

Wir verlieren den Halt. Den Takt geben andere an: Medien, Politik, Zahlen, Digitalforen. Und genau die ermahnen uns nun, Haltung zu zeigen! So legen neuere Studien nahe, dass sogenannte „purpose driven companies“, also Unternehmen, deren Treiber sinnstiftende Produkte und Dienstleistungen sind, erfolgreicher am Markt agieren als solche, denen das nicht gelingt. Die US-amerikanische Investmentgesellschaft BlackRock belegt 2020 erstmals in einer Studie, dass Nachhaltigkeitsfonds nicht nachhaltige Fonds in der Krise „outperformen“. Die EU-Kommission hat im Dezember des letzten Jahres eine grüne Taxonomie (Klassifikationsschema) entwickelt und damit ein unmissverständliches Signal in Richtung Ökologie gesetzt. Und es stehen weitere Projekte an; das Lieferkettengesetz ist eines davon.

„Aus den Werten und Überzeugungen heraus die richtigen Dinge tun!“

Die Wirtschaft reagiert auf diese empirischen Evidenzen vollmundig mit Bekenntnissen, die Welt zu verbessern. Aber glauben wir ernsthaft, dass all diese Versprechen gehalten werden? Greenwashing liegt immer dann vor, wenn die Haltung mit der Handlung nicht übereinstimmt. Und eine solche Haltungs-Handlungs-Lücke wird zunehmend offensichtlich. Noch nie hatten wir so viel Heuchelei im Markt wie gegen­wärtig. Kein Wunder, suchen viele Unternehmen doch krampfhaft nach Halt in einer neuen „handlungskonformen Haltung“, um diese dann fix an die Anspruchsgruppen zu kommunizieren. Das Problem: Strategie, Struktur und Kultur der Unternehmen wollen sie nicht ändern. Sie „texten“ sich so­zusagen grün: Statt der alten Gewinn- und Shareholder-Orientierung verspricht man nun in neuem Gewand: Versicherungskon­zerne sichern Lebensrisiken, Autokonzerne gestalten die Mobilitätswende, Ölkonzerne schützen das Klima und Banken finanzieren Nachhaltigkeitsprojekte.

In vielen Fällen täuschen wir uns selbst. Zyniker können behaupten, wir entwickeln eine neue Form der pluralistischen Ignoranz. Wir glauben, wir verhielten uns haltungskonform, tun es aber nicht, zumindest nicht kohärent gegenüber allen Anspruchsgrup­pen oder kohärent über die Zeit hinweg. Und keiner sagt etwas. Enron-Manager hatten selbst in den Verhörprotokollen noch die Überzeugung, sie hätten gut und richtig im Sinne des Unternehmens gehandelt, obwohl der US-amerikanische Welt-Energiekonzern schon von der Bildfläche verschwunden war. Der Automobilkonzern Volkswagen war stolz auf ein nahezu vorbildliches Compliance-System, ehe die Enthüllung des Dieselskandals dieses fundamental infrage stellte. Der Ölkonzern BP hat wohl selbst an den mit Pauken und Trompeten verkündeten Wechsel von British Petroleum zu Beyond Petroleum und damit an die grüne Wende des Geschäftsmodells geglaubt, ehe die Katastrophe Deep Water Horizon das Unternehmen eiskalt erwischte – und dann wurde das Re-Branding wieder korrigiert. Nein, wir müssen nicht die Haltungen an unsere Handlungen anpassen, auch nicht den adäquaten Ethik-Kodex zu unserem Geschäftsmodell entwickeln. Haltung ist mehr als geschickte Kommunikation. Das geht schief – irgendwann. Es geht genau umgekehrt: Wir wollen aus unseren Werten und Überzeugungen heraus die richtigen Dinge tun!

Haltung kann nicht extern eingefordert werden. Haltung wirkt von innen und es braucht Zeit, Ruhe und Besinnung, um sich seiner Haltung und seiner eigenen Werte bewusst zu werden. Selbstverständlich können Unternehmen Sinn stiften, wenn ihre korporative Haltung Mitarbeitende und Kunden inspiriert. Götz Werner und Bodo Jansen haben das in ihren Unternehmen dm und Upstalsboom überzeugend dargestellt. Die GLS Bank und die digitale Nachhaltigkeitsbank Tomorrow zeigen, dass auch ein Banking mit Haltung funktionieren kann. Etliche Sozialunternehmen und Social Start-ups reihen sich hier ein und all die erfolgreichen Familienunternehmen, die seit Generationen ihre Enkelfähigkeit unter Beweis stellen.

Sich der eigenen Haltung bewusst werden –
in Zeiten der Pandemie

Die Coronapandemie ist vor diesem Hintergrund mehr als eine Zäsur. Sie zwingt uns zu entschleunigen. Was Soziologen und Systemtheoretiker oftmals nicht für möglich gehalten hatten, geht: innehalten, nachdenken, neu starten. Es ist nun die Zeit, sich unserer Haltung bewusst zu werden: Wofür stehen wir? Warum tun wir die Dinge? Was wollen wir bewirken? Resilienz ist Fähigkeit, zu seinen Haltungen zu stehen. Als Mensch und als Organisation – auch und gerade in turbulenten Zeiten. Wir müssen also neu beginnen, aus einer Haltung heraus, die den Menschen und die Umwelt der Ökonomie wieder gleichstellt. Die UN hat schon im Jahre 2015 insgesamt 17 Sustainable Development Goals (Ziele für nachhaltige Entwicklung) verabschiedet, die sozusagen die neue Welt-Haltung positioniert. Armut bekämpfen! Hunger reduzieren! Gesundheit fördern! Frieden stiften! Gemeinschaft stärken! Das wirkt mächtig.

Ein Geschäftsmodell, das dem Menschen dient

Rosige Zeiten für die Sozialwirtschaft? Wer, wenn nicht Unternehmen, die seit jeher die ökonomisch-soziale Balance erproben, sind gerüstet für diese neue Ära eines verantwortungsvollen, ökonomisch erfolgreichen Umgangs im Einklang mit Mensch und Natur? Schon in den Begriffen Sozialunternehmen, Sozialwirtschaft und soziale Marktwirtschaft sind diese Werte tief verankert und haben eine lange Tradition. Das Paradigma ist nicht neu. Diakonische Unternehmen, um ein Beispiel zu geben, navigieren zwischen dem Formalziel „Gewinn“ und dem Sachziel „Hilfeleistung“, um Menschen zu stärken, die Unterstützung benötigen: Arme, Kranke, Obdachlose, Kinder, Alte etc. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin trifft jeden Tag Entscheidungen im Spannungsfeld dieser unterschiedlichen Logiken: im Büro, am Bett, auf der Straße. Würde ihnen die ökologische Ausrichtung noch gelingen, so wären sie Phänotypen einer nachhaltigen Organisation. Lehrbuchartig.

Prof. Alexander Brink bei einem seiner zahlreichen Vorträge zum Thema Corporate Governance, Responsibility und Sustainability
Prof. Alexander Brink bei einem seiner zahlreichen Vorträge zum Thema Corporate Governance, Responsibility und Sustainability – Foto: privat

In Zukunft wird neben der Haltung und Handlung als dritter Erfolgsfaktor die Wirkung stärker in den Fokus rücken. Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat genau diesen Gedanken jüngst aufgenommen, indem Wirkung, Wirkungskontrolle und Wirksamkeit die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärken sollen. Es ist die über Jahrzehnte erprobte Form gelebter Multirationalität und Polylingualität, die Sozialunternehmen meines Erachtens gestärkt aus der Krise kommen lassen kann. Aber trotz ihrer „Pole-Position“ müssen sie am Ball bleiben, denn auch andere Unternehmen werden sich erfolgreich mit Werten positionieren. Einige darunter werden ihr Greenwashing wie ein Chamäleon geschickt tarnen. Menschen lassen sich gerne täuschen und das Neuromarketing boomt. Die Arbeit am normativen Management hat gerade erst begonnen. Und genau hier sind die Sozialunternehmen stark. Ihr Geschäftsmodell dient dem Menschen. Ob das in Versprechen wie „Weil wir das Leben lieben“ (Diakoneo) oder „Im Mittelpunkt „Menschen sind unser Leben“ (Alsterdorf) besteht. Diesen Wettbewerbsvorteil gilt es auszubauen – wir nennen das die „Blue-Ocean-Strategie der Werte“!

Die Blue-Ocean-Strategie der Werte

Was ist zu tun, um als Sozialunternehmen im Blue Ocean der Werte in Zukunft erfolgreich zu sein? Drei Phasen einer erfolgreichen Wertepositionierung sind empfehlenswert, um die Motivations-, Orientierungs-, Legitimations- und Sinnstiftungsfunktion von Werten zur Entfaltung zu bringen. Die „Blue-Ocean-Strategie der Werte“ orientiert sich an einer einfachen Wirkungskette aus „Haltung-Handlung-Wirkung“:

1. PHASE:
WOFÜR STEHEN WIR?

Werte erkennen – Haltung stärken
Gemeinsam mit den Klienten werden in einer ersten Phase die wesentlichen Werte im Rahmen des normativen Managements identifiziert. Zweck, Vision und Werte bilden die Grundlage für die Umsetzung in das strategische und operative Management. In vielen Organisationen liegen bereits umfangreiche Materialien wie Leitbilder, Ethik-Kodizes, Fallstudien etc. vor. Es gilt also zunächst, eine Bestandsaufnahme zu machen, die Materialien zu sortieren und zu systematisieren und auf der Grundlage eines gemeinsamen Werteverständnisses die Haltung zu stärken. Nicht selten stellt man dabei fest, dass es über die Zeit der Entstehung der Materialien Konflikte, Widersprüche, Redundanzen und Unschärfen gibt. Es empfiehlt sich, hier agile Methoden einzusetzen und zentrale Ansprechpartner*in aus der Organisation früh einzubinden.

2. PHASE:
WARUM TUN WIR DIE DINGE?

Werte umsetzen – Handlung fokussieren
Aus dieser Haltung heraus werden in einer zweiten Phase das Geschäftsmodell sowie die einzelnen Geschäftsfelder neu bewertet. Es geht darum, die Werte in das strategische und operative Management zu überführen. Auch das Leistungsversprechen gegenüber den Kundinnen sowie das Führungsverständnis gegenüber den eigenen Mitarbeiterinnen kommt auf den Prüfstand. Es geht immer darum, zu erklären, warum man die Dinge so tut, wie man sie tut. Manchmal hilft es, alltägliche Arbeiten mit den eigenen Werten explizit zu unterlegen. Wie helfen die Werte im Umgang mit kritischen Entscheidungen in der Pflege oder in der Medizin? Was bedeuten sie im Umgang untereinander? Hilfreich ist darüber hinaus die Erarbeitung von konkreten Lehr- und Lernmaterialien, die man in die Aus- und Weiterbildung frühzeitig integrieren kann. Die meisten Unternehmen scheitern in der zweiten Phase an der echten Verbindung von normativem zu strategischem Management – hier findet der Glaubwürdigkeitstest statt.

3. PHASE:
WAS WOLLEN WIR BEWIRKEN?

Werte kommunizieren – Wirkung erzeugen
Letztlich muss die Handlung eine Wirkung erzeugen. In dieser dritten Phase geht es nicht allein darum, welcher quantifizierbare Ressourceneinsatz zu welchem monetarisierbaren Produkt- oder Dienstleistungsergebnis führt, also um die klassische Input-Output-Relation. Im Fokus stehen kunden- und zielgruppenorientierte Wirkungskennzahlen, die sich in Outcome- oder Impactgrößen widerspiegeln. Hier stehen die meisten Unternehmen gerade erst am Anfang. Erste Klienten stechen heraus, binden Kennzahlen und Steuerungsgrößen ein und arbeiten an ihrem roten Faden aus Haltung, Handlung und Wirkung.

Unsere Erfahrung in der Begleitung von Sozialunternehmen zeigt, dass die meisten Akteurinnen ihre Stärken durchaus kennen. Dennoch ist das Potenzial längst noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Mit Blick auf die Zukunft und im Wettbewerb um die intelligentesten und wirkungsvollsten Geschäftsmodelle, die beste soziale Dienstleistung, die loyalsten Mitarbeiterinnen und die treuesten Kund*innen werden Werte der Schlüsselfaktor sein. Alles beginnt mit der Haltung.


››› Zur Person

Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, geb. 1970 in Düsseldorf, ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik im renommierten „Philosophy & Economics“-Programm der Universität Bayreuth. Er lehrt und forscht seit 20 Jahren an der interdisziplinären Schnittstelle von Ökonomie und Philosophie. Seit 2021 leitet er das Institut für Ethik. 2010 gründete Alexander Brink die concern GmbH: eine der ersten Beratungsgesellschaften für Corporate Governance, Responsibility und Sustainability mit Sitz in Köln.