Ich bin so stolz auf mich!

Jessica Ahrens

Seit 2014 bestehen zwischen der Hamburger Sozialbehörde und der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Rahmenvereinbarungen zu einem mehrjährigen Trägerbudget. Ein grundlegendes Ziel ist dabei die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Richtung Personenzentrierung und Sozialraumorientierung, um passgenaue Unterstützungssettings zu ermöglichen und die Selbstbestimmung, Handlungsfähigkeit und Teilhabe der Leistungsberechtigten zu stärken.

Zur Umsetzung dieses Ziels haben die Assistenzgesellschaften ein neues Angebot entwickelt: die Teilhabelots*innen. Sie sind die ersten Ansprechpartner*innen für potenzielle Klient*innen. Zentral für ihre Arbeit ist – gemäß der Qplus-Systematik (siehe Infokasten) – der Wille der Klient*innen: Er ist Ausgangspunkt und Richtungsanzeiger für den gesamten Prozess. Wie die Arbeit der Teilhabelots*innen in der Praxis dazu führt, dass Menschen gestärkt daraus hervorgehen, zeigt die Geschichte von Jessica Ahrens und Teilhabelotse Henning Sievert.

Frau Ahrens, wie haben Sie früher gelebt?

Ich habe in einem Wohnheim eines anderen Trägers mit zehn Personen gelebt. Es war zwar immer jemand da, aber ich habe mich dort fehl am Platz gefühlt. Ich wollte selbstständiger werden, mein Leben in die Hand nehmen. Dort durfte ich nicht meine Wäsche selber waschen oder einkaufen gehen. Ende 2019 wollte ich in meinem Leben etwas ändern.

Wie haben Sie den Kontakt zu den Teilhabelots*innen aufgenommen?

Ich habe den Tipp von einer Arbeitskollegin bekommen. Und dann habe ich selber bei den Teilhabelots*innen angerufen. Das war eine große Herausforderung. Diesen Schritt, den habe ich irgendwie gewagt.

Sie haben sich viele verschiedene Wohnungen angesehen.

Ja. Ich wollte zuerst eine Wohnung, in der ich geschützter leben kann. Ich habe Schiss vor der Nacht, ich kannte es nicht, nachts alleine zu sein. Deswegen wollte ich unbedingt eine Nachtbereitschaft haben, möglichst nah bei mir.

Wie haben Sie denn die Besuche in den verschiedenen Wohnangeboten organisiert?

Ich habe selbst bei den Leitungen angerufen und mich vorgestellt. Das war nicht leicht, aber ich habe mich überwunden. Ich hatte mich dann für ein Wohnangebot entschieden. Da war zwar kein Platz frei, aber ich wollte warten, bis einer frei wird. Da gab es eine Nachtbereitschaft, direkt neben meinem Zimmer.

Es ist dann aber doch eine andere Wohnung geworden. Wie kam es denn dazu?

Ich wollte nicht mehr warten. Von meiner jetzigen Wohnung habe ich selber auf der Website der alsterdorf assistenz west gelesen – das ist nah an meiner Arbeit. Die ist da um die Ecke. Und in dem Viertel kenne ich mich gut aus. Ich kenne mich gut mit Bus und Bahn aus. Ich bin ein wandelnder Fahrplan. Bei der Assistenzteamleitung habe ich alleine angerufen.

„Ich bin superstolz,
dass ich meine Angst besiegt habe!“

War das eine leichte Entscheidung?

Nein. Ich habe zuerst meine Mitbewohnerin kennengelernt, die ist nett, mit der kann ich mich gut unterhalten. Aber das Problem war, dass die Nachtbereitschaft dort nicht direkt im Haus ist, sondern ein paar Häuser weiter.

Wie konnten Sie das Problem lösen?

Es gab die Möglichkeit eines Hausnotrufes – mit dem kann ich schnell Hilfe rufen. Trotzdem hatte ich Angst. Henning hat mir eine Vorteil-Nachteil-Liste entworfen, mit der habe ich gearbeitet. Bei meiner jetzigen Wohnung war die Liste mit den Vorteilen ganz lang, da war der Wunsch dann stärker als die Angst. Ich habe mich einfach getraut.

Sind Sie zufrieden mit Ihrer Entscheidung?

Ja – ich habe mir die Zeit gegeben, die richtige Entscheidung zu treffen. Es hat fast zwei Jahre gedauert, aber ich bin zufrieden. Ich kann jetzt selber meine Wäsche waschen und essen, was und wann ich will. Ich bin superstolz, dass ich meine Angst besiegt habe!

Welche Rolle hat Henning Sievert für Sie in dem ganzen Prozess gespielt?

Er hat mich immer wieder bestärkt, kleine Schritte selbst zu machen, zum Beispiel in den Hausgemeinschaften anzurufen. Und er hat mich das alles in meinem Tempo machen lassen.

Henning Sievert – Fotos: Archiv alsterdorf assistenz west und Axel Nordmeier (Titelbild)

Herr Sievert, Sie waren als Teilhabelotse an der Seite von Frau Ahrens. Wie haben Sie den Weg von ihr empfunden?

Bei der ersten Begegnung war Frau Ahrens gut vorbereitet: Sie wusste genau, was sie ändern wollte. Ihre Ängste haben sie manchmal blockiert, da war es wichtig, sie zu ermutigen. ‚So wenig Hilfe wie möglich, so viel Hilfe wie nötig‘, frei nach Prof. Hinte (Sozialarbeitswissenschaftler und Begründer des Konzepts Sozialraumorientierung – siehe Infokasten unten), das ist meine Arbeitsweise. Ich habe die Rolle des ‚Verklarers‘, also desjenigen, der die aktuelle Situation klar beschreibt, und des Begleiters eingenommen, aber die Entscheidungen hat Frau Ahrens getroffen. Über das Ergebnis freue ich mich total. So verstehe ich meine Arbeit: Keine Lösungen vorgeben, sondern dabei unterstützen, eigene Lösungsideen zu entwickeln. Denn: Nur das, was der Mensch selber macht, verleiht ihm Stolz und Würde.


››› Info

Die Evangelische Stiftung Alsterdorf hat sich in ihren Rahmenvereinbarungen mit der Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration unter anderem auf die Formate Q8 und Qplus zur Entwicklung neuer Unterstützungsformen verständigt: „Im Vereinbarungszeitraum wird damit begonnen, die Qplus-Systematik in einem sukzessiven und abgestimmten Prozess in die bestehenden Strukturen des Hilfesystems zu überführen.“ Damit sollen die Erkenntnisse nutzbar gemacht werden. Die Qplus-Systematik ist gekennzeichnet durch die fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung nach Prof. Hinte:

  • Willensorientierung
  • Förderung von Eigeninitiative: Aktivierende Arbeit hat grundsätzlich Vorrang vor betreuender Tätigkeit
  • Orientierung an personellen und sozialräumlichen Ressourcen
  • Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt
  • Vernetzung und Kooperation