Im Rahmen einer Gesprächsrunde mit dem ESA-Vorstandsvorsitzenden Uwe Mletzko stellt das Alsterdorf-Magazin Menschen vor, die in unterschiedlichen Arbeitsfeldern für die Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA) tätig sind oder ihre Ausbildung absolvieren. Wie sieht ihr Tagesablauf aus? Welche Motivation leitet sie? Wie sehen mögliche Herausforderungen aus?
Es geht bei dieser Gesprächsrunde um das Thema Arbeit und Ausbildung im Dialog. Wir wollen etwas über Ihren Arbeitsalltag erfahren, seine Herausforderungen und Freuden. Und was es für Sie bedeutet, bei der Stiftung Alsterdorf zu arbeiten. Wie sieht so ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?
Tatjana Walkowiak: Wenn ich in der Frühschicht arbeite, dann bereite ich erst mal den Laden vor: Ich hole die Möbel raus, packe die Brote ins Regal und den Kuchen in die Vitrine, richte die Kasse ein und schmiere die Brötchen – alles natürlich mit Unterstützung. Dann kommen schon die ersten Kund*innen und freuen sich wahnsinnig über ihren Kaffee. Viele sagen, das ist der beste Kaffee, den es gibt.
Frau Arndt, Sie arbeiten ja auf einer Akutstation, da gibt es sicher nicht den typischen Start, oder? Zu Ihnen kommen Menschen mit drängenden, sehr persönlichen Problemen und Sie sind sicher oft die erste Person, die auf diese Menschen trifft. Wie ist das für Sie?
Jennifer Arndt: Manchmal ist es schwer und manchmal leichter. Es ist nicht jeder Tag wie der andere, aber im Allgemeinen kann man sagen, dass die Patient*innen sich freuen, wenn sie uns sehen. Und ich freue mich tatsächlich auch jeden Tag, wieder zur Arbeit gehen zu können, um etwas Gutes zu tun und die Menschen zu unterstützen.
Die Patient*innen, die zu Ihnen kommen, sind sicher in ganz unterschiedlichen Verfassungen. Wie gehen Sie da vor?
Arndt: Ein „Schema F“ gibt es dafür nicht. Ich arbeite viel über mein Bauchgefühl. Ich schaue mir die Patient*innen an, versuche, einen ersten Eindruck zu bekommen, und stelle mich vor, damit sie wissen, mit wem sie es zu tun haben. Und je nachdem, wie akut die Situation ist, in der die Menschen bei uns ankommen, brauchen sie vielleicht erst mal eine Beruhigungszigarette oder einen Kaffee. Andere wollen sich direkt schlafen legen oder im ersten Moment gar keine Hilfe haben, und das ist auch in Ordnung. Dann bekommen sie erst mal ein Zimmer zugewiesen, in dem sie ankommen können, und dann schaut man weiter.
Haben Sie vorab Informationen über die Patient*innen?
Arndt: Wenn sie in einer Akutsituation kommen, werden sie meistens vom sozialpsychiatrischen Dienst angekündigt. Dann haben wir eine erste Einschätzung über die seelische Verfassung, die häusliche Situation und warum sie zu uns kommen. Manchmal ist es aber auch komplett anders als erwartet, dann muss man damit auch arbeiten. Aber glücklicherweise hatte ich bis jetzt noch keine Situation, in der ich sagen musste: Es geht gar nicht. Es war bislang alles immer handhabbar.
„Mich motivieren die Patient*innen, wenn sie nach einer Langzeittherapie zurückkommen und immer noch sagen können: Es hat sich gelohnt, das zu machen.“
Jennifer Arndt
Nun vielleicht ein kurzer Einblick in die Fachschule?
Lucie Gehrke: Unser Alltag ist von Begegnungen geprägt: Wir sind eine Klasse von 30 Schüler*innen, viele Menschen, viele Gespräche und spannende Fachkräfte. Jeder Tag ist anders und man hat ständig das Gefühl, man wird bereichert, sammelt viele menschliche Erfahrungen. Es ist eine wunderschöne Dynamik in der Schule. Wir hatten in den ersten beiden Semestern ein Praktikum im Bereich Kinder und Jugendliche. Im dritten Semester geht es nun ins Auslandspraktikum. Ich lerne gern hier und finde den Aufbau der Ausbildung sehr spannend: Weil man mit Kindern, Jugendlichen und mit Erwachsenen arbeitet, deckt man das ganze Spektrum der Heilerziehungspflege ab.
„Jeder Tag ist anders und man hat ständig das Gefühl, man wird bereichert, sammelt viele menschliche Erfahrungen.“
Lucie Gehrke
Sophia Nicholson: Ich finde es super, dass fast alle schon praktische Erfahrungen außerhalb der Schule gesammelt haben. Deshalb gibt es immer viel Input, viele Geschichten aus der Praxis.
Sie haben Ihre Ausbildungen in der Coronazeit begonnen. War das nicht besonders herausfordernd?
Nicholson: Bei uns war es gar nicht mehr so schlimm, wir hatten auch schon wieder Präsenzunterricht. Online-Unterricht gab es nur noch in Ausnahmen.
Gehrke: Und wir sind der erste Jahrgang, der wieder ins Ausland darf!
Uwe Mletzko: Wohin geht es denn?
Gehrke: Nach Bozen in Südtirol. Ich reise gern, und wenn das noch mit Arbeit verbunden ist, umso schöner. Toll, dass mir das ermöglicht wird! Wir lernen jetzt auch gerade Italienisch, auch im Rahmen der Ausbildung.
Nicholson: Ich gehe nach Triest, also auch nach Italien. Wir machen da ein viermonatiges Praktikum und arbeiten alle in Einrichtungen.
Mletzko: Diese Möglichkeit ist wirklich toll und es wird ja auch finanziell gefördert. Genauso wie es ja auch in der Ausbildung zusätzliche BAföG-Angebote gibt – sodass Sie hoffentlich einigermaßen gut durch den Monat kommen. Das ist in unserer Fachschule wirklich sehr positiv, dass die Unterstützung bei der Beantragung von Mitteln sehr groß ist. Dennoch ist die Heilerziehungspflege bisher noch eine Ausbildung, für die es – anders als in der Gesundheits- und Krankenpflege – kein Ausbildungsentgelt gibt. Das ist schon herausfordernd für diejenigen, die den Beruf ergreifen wollen. Haben Sie denn noch einen Nebenjob? Vielleicht bei uns?
Nicholson: Ich arbeite in einer Wohngruppe bei Leben mit Behinderung Hamburg. Dort habe ich auch zuvor mein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) gemacht. Das finde ich gut, weil ich hier direkt Dinge ausprobieren kann, die ich in der Ausbildung gelernt habe.
„Ich finde es super, dass es nie eintönig wird. Man hat immer wieder neue Herausforderungen“
Sophia Nicholson
Gehrke: Ich arbeite nicht zusätzlich. Ich bekomme noch Kindergeld, Aufstiegs-BAföG, (Anm. d. Red.: Es unterstützt Fachkräfte bei der Finanzierung ihrer Ausbildung bei zuvor abgeschlossener Berufsausbildung). Dies gibt es für soziale Berufe. Und mit der Unterstützung durch meine Eltern geht es. Nichtsdestotrotz wäre eine Vergütung wahrscheinlich nötig, um noch mehr Schüler*innen zu gewinnen. Denn wir bezahlen ja auch noch 200 Euro Schulgeld im Monat.
Mletzko: Ja, darüber machen wir uns Gedanken. Wir überlegen, die Heilerziehungspflege künftig so aufzustellen, dass man bei uns etwa in der Eingliederungshilfe arbeitet und berufsbegleitend die Ausbildung macht. Dann würde man ähnlich wie für eine Ausbildungsvergütung arbeiten. Allerdings: Ein Hemmnis bei der Heilerziehungspflege ist der Name: Unter „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ kann man sich etwas vorstellen, aber unter Heilerziehungspflege? Das ist nur schwer vorstellbar. Wie viel haben Sie in Ihrem Tagesablauf eigentlich mit „Pflege“ zu tun?
Gehrke: Der Pflegeanteil insgesamt ist nicht hoch. Es beschränkt sich hauptsächlich auf die fünf Wochen Pflegepraktikum. Aber ich wollte wegen des Pflegeaspektes in der Berufsbezeichnung tatsächlich diesen Beruf erst gar nicht lernen. Aber man wird im Unterricht sensibilisiert. Man merkt, dass es ja nicht nur für einen selbst ein Problem darstellen kann, sondern auch für die Menschen, die man pflegt. Es beruht also auf Gegenseitigkeit – da geht es auch um Augenhöhe. Man müsste sicher mehr über diesen Beruf informieren, damit die Menschen eine Idee bekommen, was Heilerziehungspflege eigentlich ist.
„Wir lernen ja immer zu fragen: Was ist das Bedürfnis dahinter? Was will dieser Mensch damit ausdrücken?“
Lucie Gehrke
Frau Hinrichs, mögen Sie uns mal mitnehmen nach Bergedorf?
Johanna Hinrichs: Ich arbeite in einem ambulanten Dienst. Zu uns kommen Menschen mit psychischen Erkrankungen und Problemen sowie Menschen mit Behinderungen. Sie unterstützen wir. Wir begleiten sie zu Arztterminen, besuchen sie zu Hause, meistens ein- bis zweimal die Woche. Ich arbeite weitestgehend selbstständig. Mit den Kolleg*innen sieht man sich im Büro oder zu Dienstbesprechungen, aber den Großteil der Woche ist man allein unterwegs.
Austausch muss ja sein, wie machen Sie das?
Hinrichs: Es gibt einmal pro Woche eine Dienstbesprechung, wo wir uns Zeit nehmen, über die Klientinnen zu sprechen, uns auszutauschen, auch gegenseitig Ratschläge zu geben. Auch sonst besteht immer die Möglichkeit, dass man die Kolleginnen zwischendurch anruft. Wenn man am Tag vier bis fünf Klient*innen sieht, die ja zum Teil auch starke psychische Belastungen haben, dann würde man das mit nach Hause nehmen, wenn man zwischendurch nicht darüber sprechen könnte.
Gehrke: Was genau machen Sie mit den Klient*innen?
Hinrichs: Das ist sehr abhängig von den Klientinnen und ihren Notlagen. Das fängt an – gerade bei Menschen mit geistigen Behinderungen – bei einfacher sowie qualifizierter pädagogischer Assistenz. Manche haben eine leichte Intelligenzminderung, brauchen Unterstützung bei der Bearbeitung ihrer Post oder bei Anträgen. Dann gibt es einen großen Teil ambulante Sozialpsychiatrie bei Klientinnen mit psychischen Diagnosen, die Unterstützung brauchen in der Erlernung oder Wiedererlangung der Selbstständigkeit, aber auch ganz viel bei der Netzwerkarbeit. Die Klient*innen, die uns aufsuchen, sind meist in so komplexen Notlagen, dass wir erst mal ein Hilfesystem aufbauen müssen.
Gehrke: Spannend!
Hinrichs: Absolut – kann ich nur empfehlen.
Würden Sie sagen, die Klient*innen, die Sie betreuen, sind im Stadtteil angekommen? Funktioniert Inklusion, wie Sie sich das vorstellen?
Hinrichs: Es ist schon auffällig, dass viele Klient*innen in ähnlichen Straßen, ähnlichen Wohnanlagen wohnen und das sehr zentriert wirkt. Aber Inklusion funktioniert durch die Stadtteil und Sozialraumarbeit. Dass wir beispielsweise einen offenen Treffpunkt haben, wo die Menschen, die wir unterstützen, aber auch jede andere Bürgerin oder jeder andere Bürger aus Bergedorf hinkommen kann. Alle können die Gruppen und Beratungsangebote nutzen.
Walkowiak: Ich sehe das Thema Inklusion zweigeteilt. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich wohne in einem Haus, in dem es teilweise hoch hergeht. Ich finde: Wer allein wohnen kann, soll allein wohnen – aber es gibt auch Leute, die schaffen das eben nicht. Sie sind zu krank oder haben zu viel erlebt. Bei mir im Haus hat ein Mann gewohnt, der ist den ganzen Tag nur auf dem Platz rumgerannt, weil ihm langweilig war. Da frage ich mich schon: Wo ist denn da der Sinn?
Gehrke: Ich denke, zur Selbstbestimmung gehört auch, dass man allein wohnen darf, wenn dies das Bedürfnis ist. Aber man muss vielleicht auch schauen, dass Menschen, die nicht allein wohnen wollen, auch dabei unterstützt werden, um diese Form von Langeweile oder auch Verwahrlosung zu verhindern.
Mletzko: Was Sie sagen, ist ja vollkommen richtig: Es ziehen manchmal Leute in eine eigene Wohnung und wissen dann vor Ort nur wenig mit sich selbst anzufangen. Das gilt übrigens für alle Menschen. Ich würde mit ihnen daran arbeiten, eine Idee zu entwickeln für ein Hobby, für Sport, für Dinge, die zu entdecken sind. Das ist ein Prozess, den müssen wir alle lernen. Und vielleicht besonders diejenigen, die aus sich heraus nicht die Möglichkeiten haben, für sich einen Weg zu entdecken, und sie ermutigen, für sich Abhilfe zu schaffen. Deshalb ist es so wichtig, das zu erkennen und dann mit anderen zu besprechen: Was braucht dieser Mensch? Und vor allem: Was will dieser Mensch selbst? Das muss man anerkennen. Was man nicht akzeptieren muss, ist Verwahrlosung. Wir haben einen Auftrag, da auch an bestimmten Stellen einzuschreiten und Perspektiven und Hilfe aufzuzeigen.
Gehrke: Wir lernen ja immer zu fragen: Was ist das Bedürfnis dahinter? Was will diese Person damit ausdrücken? Dann können wir überlegen: Was können wir dieser Person anbieten? Was können wir verändern, sodass gar nicht diese Losgelöstheit von der Identität entsteht.
Hinrichs: Bevor professionelle Dienste wie wir zum Einsatz kommen, müssen wir erst mal wissen, dass da jemand Unterstützung braucht bzw. wir einen Auftrag dafür bekommen. Deshalb ist es eine Bitte an alle Menschen, wachsam zu sein und solchen Menschen in Hilfesysteme zu verhelfen.
Mletzko: Mich würde interessieren: Wo nehmen Sie eigentlich die Motivation für Ihre Arbeit her? Bei der Arbeit etwa mit Menschen mit psychischen Erkrankungen, wo ein Rückfall oft dazu führt, dass man um Monate in der Arbeit zurückgeworfen ist. Etwa in den Heinrich Sengelmann Kliniken auf der Aufnahmestation, wo Menschen mit richtig schwerem seelischem Gepäck ankommen? Oder wenn Sie im Kontext mit der Ausbildung etwas ausprobieren, was Sie gelernt haben, und feststellen, dass es so überhaupt nicht funktioniert? Ich finde bezüglich der Motivation bei mir selbst, dass ich einen tollen Job habe! Ich kann gestalten, mit anderen Menschen unterwegs sein und dazu beitragen, die Welt vielleicht ein bisschen besser zu machen. Das motiviert mich. Und wie ist das bei Ihnen?
Walkowiak: Meine Motivation ist, dass ich jeden Tag gern zur Arbeit gehe, dass sich die Gäste freuen, dass meine Chefin und meine Kolleg*innen nett sind, dass ich überhaupt Arbeit habe. Und dass ich Lob und Rückhalt und Anerkennung bekomme, das ist für mich auch wichtig. Und die habe ich in hohem Maße.
Nicholson: Ich finde es super, dass es nie eintönig wird. Man hat immer wieder neue Herausforderungen. Klar gibt es Tage, wo man denkt: Alles, was ich in der Theorie gelernt habe, hat in der Praxis überhaupt nicht funktioniert. Aber es gibt auch tolle Tage, wo man merkt: Ich konnte einem Menschen helfen – auch wenn es nur ein ganz kleiner Schritt war, aber vielleicht führt er ja zu etwas Größerem. Und wenn etwas nicht klappt, können wir uns in der Klasse darüber gut austauschen und uns Tipps geben. Und auch unsere Lehrkräfte tragen viel dazu bei.
„Wenn etwas nicht klappt, können wir uns in der Klasse darüber gut austauschen und uns Tipps geben. Und auch unsere Lehrkräfte tragen viel dazu bei.“
Sophia Nicholson
Gehrke: Was mich an dieser Arbeit so motiviert, ist: Man darf Mensch, man darf man selbst sein. Du kommst mit deiner Qualifikation und deinen menschlichen Qualitäten und darfst diese ganz frei ausleben und sogar noch weitergeben – das macht mir unendlich viel Freude. Es ist für mich ein großer Wert, die Schönheit, die ich in meinem Leben erfahren habe, bei anderen Menschen zu erwecken, sodass die vielleicht auch morgens aufstehen und sagen können: Hey, heute wird ein ganz schöner Tag, denn ich habe dies oder jenes vor.
Arndt: Mich motivieren die Patientinnen. Wenn beispielsweise ein schwer depressiver Patient nach fünf Wochen die erste Dusche hinter sich hat, sich freut, dass er wieder angenehm riecht, frische Kleidung anhat. Und auch bei wiederkehrenden Patientinnen sieht man eine Veränderung, wenn sie sich vielleicht beim zehnten Anlauf doch auf eine Therapie einlassen. Und selbst wenn sie nach einer Langzeittherapie zurückkommen und immer noch sagen können: „Es hat sich gelohnt, das zu machen, und danke, dass Sie mich dahin geführt haben.“
Hinrichs: Mir geht es da ähnlich: Ich freue mich auch sehr, wenn eine Klientin oder ein Klient für sich einen großen Schritt geschafft hat und man über die Monate oder Jahre, die man zusammenarbeitet, auch in der professionellen Beziehungsarbeit voran kommt. Die Menschen bringen uns ja auch sehr viel Vertrauen entgegen. Und wenn sie schlussendlich die Hilfe gar nicht mehr benötigen – das ist natürlich das Nonplusultra. Und für die Tiefs oder Krisen, die man mit den Klient*innen erlebt, ist es wichtig, ein Team zu haben, das einen auffängt und einen so akzeptiert, wie man ist. Da profitiere ich bei mir von einer guten, sehr kompetenten Leitung, die uns wirklich immer sehr unterstützt, vieles abfängt und uns dadurch auch die Möglichkeiten gibt, unsere Arbeit so frei zu gestalten.
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?
Hinrichs: Gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ist das oft Teil der Erkrankung. Darauf muss man sich immer ein bisschen einstellen. Man darf nicht nur das große Ziel vor Augen haben, sondern immer auch Teilziele. Und man muss schauen, dass man eine gute Balance für sich selbst findet. Es ist schon eine emotional belastende Arbeit, da ist es wichtig, dass man privat einen Ausgleich hat und für sich selbst – und auch im Team – Strategien ent wickelt, wie man die Arbeit auf der Arbeit lässt. Denn sonst kann man sie irgendwann nicht mehr erfüllen.
Gibt es noch weitere Themen in Bezug auf die Stiftung, die Sie ansprechen möchten?
Hinrichs: Seit Beginn meines Studiums bei der ESA begleitet mich ein Thema: Modernität und Digitalisierung. Gerade in der Eingliederungshilfe finde ich, dass das noch sehr ausbaufähig ist. Damit könnte man in der Dokumentation etwa viel Zeit sparen, die den Klient*innen zugutekommen würde.
Mletzko: Bei der Dokumentation ist uns vieles gesetzlich auferlegt, und das ist im Vergleich zur Arbeit mit den Menschen viel zu viel. Man kann natürlich mit Digitalisierung vieles verändern, aber dann müssen wir genau fragen: Wie können Sie und wie können die Klient*innen durch Digitalisierung profitieren? Denn wir wollen Digitalisierung nicht zum Selbstzweck vorantreiben oder weil irgendein Bundesminister sich das ausgedacht hat. Ein Beispiel ist das Projekt „digicontact“ der alsterdorf asistenz ost. Das ist im Grunde nichts anderes, als dass Sie als Mitarbeitende mit einer Klientin oder einem Klienten eine Videokonferenz haben. Natürlich kommen Mitarbeitende auch weiterhin zu persönlichen Treffen, aber sie sind eben auch über das Smartphone ansprechbar. Wenn es ein Problem gibt, lässt sich das so schneller erledigen, als auf den nächsten Termin zu warten. Man hat einander gesehen und miteinander gesprochen, ohne dass dafür jemand lange Fahrtstrecken durch die Stadt auf sich nehmen muss. Und Sie als Mitarbeitende sind im Notfall viel zeitnaher ansprechbar.
Wie entwickelt die Stiftung eigentlich neue Projekte und welche Rolle spielen die Mitarbeitenden dabei?
Mletzko: Wir – die ESA als Arbeitgeberin – denken gerade über Innovation nach. Wie können wir Räume schaffen, in denen Sie als Mitarbeitende sagen können: Ich habe eine Idee, die möchte ich weitergestalten und suche dafür noch Mitstreiterinnen? Wir, die wir hier in der Runde sitzen, und viele von den anderen 6.700 Mitarbeiterinnen haben viele Möglichkeiten, diese Welt klug weiterzuentwickeln und etwas Neues in die Welt zu bringen. Wir sind darauf angewiesen, dass Sie als Mitarbeitende in Ihren jeweiligen Kontexten sagen: Wir erkennen eine Herausforderung und möchten diese dringend verändern.
Ich war kürzlich bei einem unserer Projekte in Rahlstedt eingeladen: Die Menschen treffen sich dort in den Begegnungsräumen, zwei oder dreimal die Woche. Ich war an einem Montagmorgen dort, und außer zwei Mitarbeitenden saßen da sieben oder acht Menschen am Tisch mit einer psychischen Erkrankung und erzählten einander von ihrem Wochenende. Die eine Person erzählte, dass sie tolle Dinge erlebt hat, eine andere berichtete, dass sie nur drinnen in den eigenen vier Wänden verbracht hat und sich nicht rausgetraut hätte. Und dann beraten die Teilnehmenden sich miteinander, und zwar wechselseitig, das war sehr interessant. Wir können also durch unsere eigenen Ideen dazu beitragen, dass sich Neues entwickeln kann.
Walkowiak: Du kannst von psychisch kranken Menschen oder von Menschen mit Handicap überhaupt viel lernen. Wir hatten einen Kollegen, der hatte Männer als Partner. Und wir haben überlegt: Wie erklären wir das nun dem anderen Kollegen? Aber der sagte einfach: „Dann bist du ja gar nicht wie ich.“ Der Kollege nimmt immer alles so leicht. Die Leichtigkeit von ihm möchte ich gern haben.
„Bei aller Vielfalt besinnen wir uns auf unser gemeinsames Leitmotiv, das hilft uns und macht uns zusammen stark.“
Uwe Mletzko
Mletzko: Das würde ich gern noch mal aufnehmen als etwas Besonderes in unserem Unternehmen: die Vielfalt. Menschen, die bei uns arbeiten, haben unterschiedlichste Bedingungen, kommen aus über 80 Nationen, haben unterschiedliche Lebensweisen, Religionen oder Denominationen. Bei aller Vielfalt besinnen wir uns gemeinsam auf unsere fünf Werte, auf unser gemeinsames Leitmotiv, das hilft uns und macht uns zusammen stark.
Walkowiak: Noch ein anderes Thema: Es ist schon viel besser geworden, aber ich habe trotzdem noch häufig das Gefühl, dass man immer noch stigmatisiert wird, wenn man sagt, dass man eine psychische Erkrankung hat. Man kann schon besser darüber sprechen, aber man wird oft noch komisch angeschaut. Ich sage dann immer: Euch kann auch allen etwas passieren, womit ihr nicht klarkommt oder was euch den Boden unter den Füßen wegreißt.
Mletzko: Mich würde noch mal interessieren: Gibt es etwas, wo Sie sagen würden: Da muss die ESA besser werden, da haben wir Herausforderungen oder da sehen wir etwas nicht?
Nicholson: Das Thema Vergütung bei der Ausbildung hatten wir ja schon. Das ist schon eine Hemmschwelle für viele Menschen, die Ausbildung überhaupt zu beginnen.
Arndt: Bei uns ist bei der Personalbesetzung noch Luft nach oben. Aber ich denke, das ist nicht unbedingt etwas, wo Alsterdorf allein etwas ändern kann, sondern da muss sich in der ganzen Politik etwas ändern. Positiv ist aber, dass jetzt deutlich mehr Werbung gemacht wird für Bargfeld-Stegen. Aber es ist wirklich weit draußen.
Hinrichs: Ich fände einen engeren Austausch – innerhalb der ESA und auch mit dem Vorstand – so wie bei dieser Gesprächsrunde – spannend. Vielleicht könnte man das noch weiter öffnen und unsere Klient*innen einbeziehen. Die können Probleme sehr deutlich benennen und sehen, wo es schwierig ist.
Gibt es etwas, was die Arbeit bei der Stiftung Alsterdorf besonders macht, einen Grund, warum Sie diese genau hier machen und nicht woanders?
Nicholson: Also die Ausbildung mache ich auch wegen des Auslandspraktikums hier. Das hat mich wirklich überzeugt.
Gehrke: Ich komme aus der Gegend von BargfeldStegen, ich kenne Alsterdorf, seitdem ich auf dieser Welt bin. Wichtig war für mich auch, dass die Schule hier so klein und familiär ist, nicht so groß und überfüllt.
Arndt: In den HSK ist es auch sehr überschaubar und familiär. Ich bin direkt nach der Ausbildung dorthin gegangen. Ich hatte gemerkt, dass das Arbeiten in der Somatik mir nicht so lag: Man hatte keine Zeit, sich einmal fünf Minuten mit einem zu pflegen den Menschen hinzusetzen. Im HSK schätze ich auch, dass jede Station ihren eigenen Schwerpunkt hat. Es gibt beispielsweise eine Extrastation für Depressionen, eine für Depressionen im Alter, eine Gerontopsychiatrie. Und sie haben alle ihr eigenes kleines Haus und ihre eigene Bezugsgruppe von Menschen ähnlichen Alters und ähnlicher Diagnose. Das ist auch für die Patient*innen sehr förderlich, weil der Austausch besser ist.
Mletzko: Alsterdorf ist einfach ein toller Ort, um hier zu arbeiten, und die Stiftung ist ein hochattraktiver Arbeitgeber. Auch weil unsere Konzepte und unsere Leitidee, den Menschen in die Mitte unseres Handelns zu rücken, sehr modern sind. Wir denken immer wieder die Dinge konkret von Neuem und ruhen uns nicht aus. Das macht uns stark. Gerade im Bereich der Idee einer Sozialraumorientierung und der konsequenten Umsetzung dessen, was Inklusion bedeutet. Die Rahmenbedingungen sind im weitesten Sinne gut. Klar ist auf jeden Fall: Wir müssen dafür kämpfen, dass die Vergütungssituation sich im sozialen Bereich noch verbessert und attraktiver wird, aber das können wir nicht nur allein.
„Wir denken immer wieder die Dinge konkret von Neuem und ruhen uns nicht aus.“
Uwe Mletzko
Hinrichs: Ich finde, Alsterdorf ist ein sehr cooler Arbeitgeber, ich arbeite gern hier. Ich nehme wahr, dass die Stiftung versucht, moderner zu werden. Gerade auch mit „MyESA“ (Anm. d. Red.: Social Intranet der Stiftung) gibt es sehr viele Möglichkeiten, sich untereinander zu vernetzen, Communitys zu schaffen und mitzugestalten mit verschiedenen übergreifenden Teams. Das kenne ich so von anderen Arbeitgebern nicht und das finde ich sehr positiv. Und auch innerhalb der Teams habe ich bisher sehr viel Mitspracherecht erlebt, sehr viel Gestaltungsmöglichkeiten und dass Kreativität und die eigenen Stärken sehr gern gesehen sind. Das finde ich sehr schön.
„Auch innerhalb der Teams erlebe ich sehr viel Mitspracherecht. Kreativität und die eigenen Stärken sind sehr gern gesehen. Das finde ich sehr schön.“
Johanna Hinrichs
Walkowiak: Ich habe mich für Alsterdorf entschieden wegen des Sozialen, des Miteinanders und des Füreinanders – und ich wurde darin bestärkt. Zuerst haben meine Chefin und ich immer aus Spaß gesagt, sie hat mich bis zur Rente, aber es sieht wohl so aus, als hätte sie mich wirklich bis zur Rente.
„Ich habe mich für Alsterdorf entschieden wegen des Sozialen, des Miteinanders und des Füreinanders.“
Tatjana Walkowiak
››› Info
DIE GESPRÄCHSTEILNEHMER*INNEN:
- TATJANA WALKOWIAK, arbeitet seit 17 Jahren für alsterarbeit, zuerst im Alstercafé, dann im David’s Café und jetzt im Alstersnack auf dem Alsterdorfer Markt.
- JENNIFER ARNDT, Gesundheits- und Krankenpflegerin, stellvertretende Stationsleitung der Aufnahmestation und Praxisanleiterin in den Heinrich Sengelmann Kliniken (HSK).
- LUCIE GEHRKE und SOPHIA NICHOLSON, Schülerinnen der fachschule für soziale arbeit alsterdorf – aus dem Kurs 62A; sie absolvieren die dreijährige Vollzeitausbildung mit integriertem Praktikum zur Heilerziehungspflegerin. Beide sind im dritten Semester und absolvieren im vierten Semester ein Praktikum im europäischen Ausland.
- JOHANNA HINRICHS, Sozialpädagogin in der alsterdorf assistenz ost (aaost), arbeitet im ambulanten Team Bergedorf, wo sie ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe erbringt. Sie hat gerade ihr Studium abgeschlossen, während dem sie schon in einem Wohnangebot der aaost gearbeitet hat.
- UWE MLETZKO, seit Anfang 2022 Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Der Theologe ist Pastor und hat zudem Diakoniewissenschaft und Kommunikationswissenschaften studiert.
Fotos: Axel Nordmeier