Interview mit Tobias Fritze, Leiter des Campus Uhlenhorst
Aktivieren, stärken, Chancen geben – dieser Dreiklang gehört seit dem Start im Jahr 2014 zur DNA des Campus Uhlenhorst. Hier machen sich bis zu 50 Jugendliche mit Lernschwierigkeiten am Ende ihrer Schulzeit fit für den Start in ihr Berufsleben.
„Mach, was du kannst!“ ist das Motto von Tobias Fritze und seinem Team. Das Alsterdorf-Magazin traf den Leiter seit Gründungstagen zum Gespräch.
Herr Fritze, der Campus Uhlenhorst unterstützt junge Menschen mit geistiger Behinderung beim Übergang von der Schule in den Beruf und ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Wie schaut das genau aus?
Zu uns kommen Jugendliche und junge Erwachsene ab dem Alter von 15 Jahren – in der Regel nach der zehnten Klasse. Viele haben noch gar keine Vorstellung davon, was eigentlich Arbeit ist und was so dazugehört. In der Lebenswelt der jungen Menschen stehen Themen wie Freundschaft, Partnerschaft, Wohnen oder Freizeit im Fokus. Das Thema Arbeit ist noch gar nicht so klar gefasst. Hier setzen wir an: zum einen mit einem Kurssystem, das klassische Bildungsinhalte weiter fortführt. Und zum anderen arbeiten wir ganz stark über Praktika. Wir kooperieren eng mit vielen Hamburger Unternehmen und können dabei auf ein in den Jahren gewachsenes Netzwerk von über 500 Betrieben in unterschiedlichen Branchen zurückgreifen.
Welche Branchen gehören dazu?
Das sind Kitas, Seniorenheime, gastronomische Betriebe, Hotels, Lager- und Logistik- Unternehmen, Handwerksbetriebe sowie der Groß- und Einzelhandel.
Sprechen Sie die Unternehmen aktiv an oder kommen potenzielle Partner aus der Wirtschaft auf Sie zu?
Zum einen finden uns die Unternehmen. Sie beschäftigen sich intern mit dem Thema Inklusion, hatten bereits Kontakt zu unseren Kolleginnen, kennen andere Unternehmerinnen oder Menschen aus dem privaten Umfeld, die bereits mit uns zusammengearbeitet haben oder informieren sich über unsere Website. In ersten Gesprächen auf dem Campus Uhlenhorst oder direkt in den Unternehmen lernen sie unsere Teilnehmerinnen kennen. Hier bringen wir betriebliche Anforderungen und Möglichkeiten mit den Wünschen und Ideen der Teilnehmerinnen zusammen. Etwa ein, zwei Monate später machen unsere Teilnehmerinnen jeweils ihr erstes Praktikum – das kann zunächst nur eine Stunde in der Woche sein, von montags bis freitags gehen oder nur vormittags stattfinden. Da sind wir sehr flexibel in der Ausgestaltung. Und wir nehmen uns Zeit für diesen ersten, wichtigen Schritt in die Selbstständigkeit. Unsere Teilnehmerinnen können den Campus Uhlenhorst bis zu vier Jahre besuchen.
Zum anderen sprechen wir auch aktiv Unternehmen an, nachdem wir gemeinsam mit unseren Teilnehmer*innen eine Idee entwickelt haben, was sie gerne machen wollen. Und wir fragen bereits im Bewerbungsverfahren: Was interessiert euch? Was wollt ihr ausprobieren? Ein Beispiel aus den gerade laufenden Bewerbungsgesprächen: Ein junger Mann, 16 Jahre alt, wird voraussichtlich im nächsten Jahr bei uns anfangen. Er sagt uns: „Ich würde gerne ein Praktikum in der IT machen oder in einem Hotel. Ich kann mir vorstellen, bis zu acht Stunden am Tag zu arbeiten – gerne mit Pausen.“ Andere haben eine Pflegestufe oder eine besondere Einschränkung. Das sind Dinge, die wir bei der Akquise von Praktikumsstellen berücksichtigen müssen.
Am Campus Uhlenhorst unterstützen Lerncoaches die jungen Menschen. Was machen die anders als Sozialpädagoginnen oder Lehrerinnen?
Unser Ansatz ist die Verbindung von praktischen Fähigkeiten und pädagogischer Expertise. Wir haben für alle Teilnehmerinnen praxisnahe Coaches. Das sind Kolleginnen, die eine sozialpädagogische oder pädagogische Ausbildung und dazu eine Berufsausbildung haben. Wir haben eine Friseurin, die auch Pädagogin ist. Andere Kolleginnen sind Tischlerin, Köchin bzw. Koch oder kommen aus dem Landschaftsbau.
Wie arbeiten Sie mit den Teilnehmer*innen im Praktikum?
Die psychische und physische Gesundheit unserer Teilnehmer*innen ist uns besonders wichtig. Es reicht nicht aus, einfach „nur“ einen Arbeitsplatz zu haben. Die Einbindung in Arbeitsprozesse und Teamstrukturen ist unbedingt notwendig. Es bringt nicht viel, wenn man irgendwo arbeitet und seine Leistung bringt, aber nicht integriert ist. Wertschätzung, Miteinander und Respekt sind unabdingbare Faktoren für den Erfolg betrieblicher Integration. Ob beim gemeinsamen Mittagessen oder der Akzeptanz von unterschiedlichen Arbeitsgeschwindigkeiten.
Unser Ziel ist ein guter Übergang in ein möglichst sicheres, gesundes Arbeitsverhältnis, wo man sich lange und wirklich zufrieden einbringen kann und auch tatsächlich inkludiert ist.
„Kernbereich unserer Arbeit ist natürlich, unseren Teilnehmer*innen Wege in den Beruf zu ebnen“
Wann ist Ihre Arbeit erfolgreich?
Wenn alle Teilnehmerinnen nach ihrer auf dem Campus wissen, was sie in der Zukunft machen möchten. Ein Beispiel: Eine Teilnehmerin konnte sich gut vorstellen, ihr Praktikum in einer Wäscherei zu machen. Und sie wollte das in einer ganz normalen Arbeitsumgebung und nicht in einem Inklusionsbetrieb machen. Wir haben dann einen geeigneten Betrieb gefunden, eine kleine Wäscherei mit zwölf Mitarbeitenden. Sie hat eine Woche mitgearbeitet. Nach der Woche wurde das Praktikum verlängert – Kernbereich unserer Arbeit ist natürlich, unseren Teilnehmerinnen Wege in den Beruf zu ebnen und schließlich wurde sie dann in Festanstellung übernommen. Mittlerweile arbeitet sie seit fünf Jahren in der Wäscherei. Neulich hatte ich sie gefragt: „Hast du Lust, mal vorbeizukommen und den Neuen von deinem Weg zu berichten?“ Ihre Antwort: „Würde ich gerne machen, aber ich muss ja arbeiten. Ich komme gern mal am Wochenende zum Ehemaligentreffen vorbei.“
Sie hat den Schritt ins Berufsleben gemacht, wir hören immer mal wieder bei ihr rein, so wie wir das auch bei unseren anderen Ehemaligen machen. Die weitere Betreuung übernimmt an dieser Stelle dann der Integrationsservice Arbeit (ISA).
Wir haben in der ESA das große Glück, dass wir so aufgestellt sind, junge Menschen umfassend zu begleiten: von der Schule über die berufliche Bildung bis zur Betreuung im Job.
Der erste Job, das bedeutet auch, sich vom Elternhaus ein Stück weit zu lösen, eigenständig zu werden. Wie unterstützt der Campus die jungen Menschen dabei, flügge zu werden?
Kernbereich unserer Arbeit ist natürlich, unseren Teilnehmerinnen Wege in den Beruf zu ebnen. Aber wir haben sehr schnell festgestellt, dass wir all die anderen Dinge, die in dieser Zeit der Ablösung von Elternhaus und Schule wichtig sind, nicht ausblenden können. Wohnen ist von zentraler Bedeutung, ebenso wie Freizeitgestaltung, Partnerschaft und Sexualität. Unsere Teilnehmerinnen beschäftigen sich ein halbes Jahr lang anderthalb Stunden in der Woche mit ihren Wünschen und Zielen, die sie für sich haben. Auch mit den Hindernissen, die auf sie zukommen können. Dieser Kurs mündet in einer Lagebesprechung, wo unsere Teilnehmerinnen Menschen von außen einladen, also beispielsweise ihre Eltern, Freunde oder ehemalige Lehrerinnen. Die Lagebesprechung läuft in der Regel über einen Vormittag. Hier definieren die Teilnehmerinnen in einem moderierten Prozess Ziele für sich. Und dabei kann durchaus rauskommen, dass es ihnen gar nicht um Arbeit geht, sondern um die eigene Wohnung. Wir nehmen diese Wunschziele auf und integrieren sie in unsere Arbeit. So bieten wir einen Kurs für unsere Teilnehmerinnen an, der sich mit dem Thema Wohnen beschäftigt. Hier werden unterschiedliche Wohnformen besprochen. Es wird darüber diskutiert, was es bedeutet, in einer WG oder allein zu leben. Unsere Lerncoaches gehen auch mit den Kursteilnehmer*innen zu Wohnungsbesichtigungen.
Der Campus Uhlenhorst verbindet Praxisvermittlung mit klassischen Lerninhalten und einem großen kreativen Bereich. Wie ergänzt sich das?
Also wir machen viele kreative Dinge in einem sehr agilen Arbeitsumfeld. Da steckt aber noch viel mehr drin. Wir haben sechs Berufsorientierungs-Profile hier vor Ort. Gastronomie ist eines davon. Hier kochen Teilnehmerinnen mit einem gelernten Koch, der auch Fachkraft Berufsvorbereitung ist, das Mittagessen für ihre Mitschülerinnen und das gesamte Team am Campus. Im Profil Hauswirtschaft wird etwa die bei uns anfallende Wäsche, Arbeitsbekleidung, Handtücher oder Tischdecken, täglich gereinigt und gebügelt. In den Profilen Garten-Landschaftsbau und Fachpraxis Handwerk bekommen die jungen Leute Einblicke in handwerkliche Berufe – angeleitet von unseren Fachexperten. Und spätestens seit der Coronapandemie nimmt das Digitale immer mehr Raum bei uns ein – und Kompetenzen in diesem Bereich werden auch von unseren Unternehmenspartnern stärker nachgefragt.
Die kreativen Produkte, die in unserem Handwerksprofil entstehen, wie Lederschlüsselbänder, Postkartenmotive oder Schmuck aus Recycling-Material, helfen uns auch dabei, mit Geschäfts- und Privatleuten bei uns im Quartier und in ganz Hamburg in Kontakt zu treten. So entstehen Gesprächsanlässe über Projekte, die wir machen. Menschen werden auf uns aufmerksam und viele haben zum ersten Mal eine direkte Begegnung mit Menschen mit Behinderung. Das kann ein Start für ein Arbeitsverhältnis sein.
››› Weitere Informationen
Campus Uhlenhorst
Heinrich-Hertz-Straße 72
22085 Hamburg
www.campus-uhlenhorst.de