Uwe Mletzko

Inklusion braucht Räume für Begegnungen

Uwe Mletzko ist der neue Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA). Im Sommer 2021 fiel die Entscheidung durch den Stiftungsrat. Mit Beginn des neuen Jahres hat er nun seine Arbeit aufgenommen. Im Interview spricht er unter anderem über den Reiz der neuen Aufgabe, den gesellschaftlichen Stand der Inklusion, Werte, die durchs Leben tragen, und einen Lieblingsplatz in Hamburg.

Das Jahr beginnt und gerade haben Sie noch Kartons ausgepackt nach Ihrem Umzug von Hannover nach Hamburg – haben Sie denn schon einen Lieblingsplatz in Hamburg?

Direkt beim Michel habe ich während meiner Wohnungssuche ein kleines, gemütliches Café entdeckt. Dort saß ich zwischen den Wohnungsbesichtigungen, um abzuschalten und zur Ruhe zu kommen. Ich freue mich aber schon, Hamburg weiter zu erkunden.

Was waren für Sie persönlich die Gründe für einen Wechsel zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA)? Was reizt Sie besonders an Ihrer neuen Aufgabe?

Ich kenne die Evangelische Stiftung Alsterdorf schon viele Jahre. Um die Jahrtausendwende, als der Weg von der Anstalt hin zur quartiersbezogenen Arbeit begann, gab es im Prinzip nur drei Vorzeigeeinrichtungen, die die Zeichen der Zeit erkannt hatten. Die ESA war eine dieser Organisationen. Bei meinen Besuchen in der Stiftung Alsterdorf habe ich unter anderem das Q8-Sozialraumprojekt kennengelernt und so gab es immer wieder Bezugspunkte.

Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ist für mich der Inbegriff eines modernen diakonischen Unternehmens, Dazu gehört grundsätzlich, die Eingliederungshilfe jeden Tag neu und weiter zu denken. Ich habe das bereits gespürt: Letztlich gehört für viel Hamburgerinnen und Hamburger die Stiftung einfach dazu – sie ist hier eine Institution.

Uwe Mletzko
Uwe Mletzko – Fotos Axel Nordmeier

Wie sieht für Sie denn ein zeitgemäßes bzw. innovatives diakonisches Unternehmen aus?

Zeitgemäß ist aus meiner Sicht, dass die ESA den Menschen konsequent in den Mittelpunkt stellt. Und damit meine ich eben nicht nur den Klienten, die Patientin oder den Bewohner, sondern insbesondere auch die Mitarbeitenden. Ein modernes Unternehmen ist aus meiner Sicht dann erfolgreich, wenn es die Mitarbeitenden im Blick hat. Dazu gehören gute Rahmenbedingungen, vor allem aber braucht es Raum für Mitarbeitende, um innovative Ideen einzubringen und Vorschläge für die Stiftung zu entwickeln.

Ein zukunftsgewandtes Unternehmen benötigt eine produktive Unruhe und gibt sich nicht zufrieden mit dem, was bereits da ist. Es geht darum, aus der Tradition heraus in der Gegenwart mit wachen Augen zu leben und die Zukunft für alle positiv zu beschreiben. Nehmen wir die quartiersbezogene Arbeit, in der wie bei einem Puzzle alles mitgedacht wird statt nur auf die Wohnung oder den Lifter für die Badewanne zu schauen. Vielleicht haben oder kennen wir noch nicht alle Teile des Puzzles, aber wir suchen weiter. Und diese Neugierde ist unerlässlich.

Innovation heißt für mich aber auch, mit anderen in den Austausch zu gehen und neue Blickwinkel kennenzulernen, also sich gegenseitig zu bereichern und voneinander zu lernen. Vor allem aber, und das ist mir besonders wichtig, kann Innovation nur hierarchieübergreifend stattfinden. Wir wissen selbstverständlich, dass Hierarchien bestehen, aber diese können im Arbeitsalltag soweit in den Hintergrund treten, insofern wir alle mit einem gemeinsamen Ziel unterwegs sind.

Uwe Mletzko

Sie sind in der ESA Direktor und Vorstandsvorsitzender eines großen und wichtigen Arbeitgebers in Hamburg und gleichzeitig Pastor. Welche Akzente möchten Sie in dieser Rolle setzen?

Ich bin von der Grundausbildung her Pastor und im Vorstand bringe ich diesen Blick für das kirchlich-soziale, ethische und das Menschenbild ein. Gleichzeitig setze ich natürlich auch die wirtschaftliche und fachliche Brille auf. Als Pastor liegt mir zum Beispiel die Belebung der Kirche St. Nicolaus am Herzen und die Förderung des diakonischen Profils unserer Unternehmenskultur. Hauptschwerpunkt ist aber die Leitung und die strategische Ausrichtung der Stiftung. Das ist vorrangig die Funktion des Direktors und Vorstandsvorsitzenden, aber immer mit den Augen des Pastors. Letztlich sehe ich das Unternehmen wie ein Schiff. Als ein Kapitän stehe ich auf der Brücke und kann das Kommando „volle Kraft voraus“ geben, aber ohne eine Verbindung zu den Menschen im „Maschinenraum“ passiert erstmal gar nichts. Mir ist vor allem die Arbeit im Team wichtig und mit allen Mitarbeitenden auf dem „Schiff ESA“. Jede und jeder trägt seinen Teil bei. Das Team Vorstand, in das ich eingebunden bin, findet sich gut zusammen zum Besten der Stiftung. Das spüre ich nach den ersten Begegnungen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Was ist denn aus Ihrer Sicht das Beste an Ihrem Job?

Auf jeden Fall die Menschen und die täglichen Begegnungen. Wenn mein Vater hier mit am Tisch säße, würde er sagen: „Mit Maschinen hat er es nicht so, aber mit Menschen, das kann er.“ Hammer und Schraubenzieher sind also nicht mein Steckenpferd. Ich möchte stattdessen Menschen individuell als Persönlichkeit wahrnehmen, ihnen zuhören, nachfragen, gemeinsame Lernerfahrungen sammeln.

Ich wünsche mir, dass Mitarbeitende oder Klientinnen und Klienten keine Scheu haben, mich anzusprechen, sondern einfach auf mich zukommen, mich ansprechen und in den Austausch gehen. Das wird sicherlich wachsen und darauf freue ich mich.

Uwe Mletzko

Wenn Sie mit Ihrer Familie sprechen: Sind Sie in Ihrem Beruf und im Leben an dem Platz, den Ihre Eltern sich vorgestellt haben? Also weniger der Hammer und mehr der Mensch im Blick?

Meine Familie hat meinen Wunsch, Pastor zu werden, mit vollem Herzen mitgetragen. Mein Vater hätte sich seinen Sohn auch gut als Steuerberater vorstellen können, aber auch ihm war letztlich klar, dass es eher der Pastor wird.

Meine Familie ist für mich in meinem Leben sehr wichtig und das umfasst auch die Menschen, die mir über die Kernfamilie hinaus nahestehen, da ich ja alleine lebe. Genauso haben für mich Gesundheit und vor allem Achtsamkeit im gesellschaftlichen und privaten Raum eine große Bedeutung.

In 2021 haben wir gerade den 200. Geburtstag unseres Gründers Heinrich Matthias Sengelmann gefeiert. Welche Themen möchten Sie nun vorantreiben? Wofür brennen Sie?

Ich komme letztlich nicht mit einem Koffer, den ich hier in der Stiftung auspacke, sondern freue mich darauf, die ESA in allen Facetten kennenzulernen. Natürlich betrachte ich sie mit einem frischen Blick und werde Fragen stellen, um gemeinsam Dinge weiterzuentwickeln. Ich möchte aber vor allem die Modernität der Stiftung erhalten, neugierig bleiben und mich nicht in eine Ruhe begeben.

Inhaltlich werden wir hinschauen, in welche Richtung wir weitergehen. Nehmen wir zum Beispiel die Eingliederungshilfe. Aus meiner Sicht muss so viel wie möglich ambulant stattfinden, aber es wird immer Menschen geben, die in Wohngemeinschaften zusammenleben wollen und dieses auch dürfen. Dieses Wunsch- und Wahlrecht ist elementar. Auch die Inklusion in der gesundheitlichen Versorgung und im Bereich der Arbeit müssen wir weiterdenken, da geht gesellschaftlich noch viel mehr. Ganz wichtig ist für mich die Frage des Lebensendes. Wir diskutieren ja derzeit über den assistieren Suizid und ich glaube, die Frage würde sich vielen Menschen nicht stellen, wenn die Rahmenbedingungen ein Altern und Sterben in Würde ermöglichen. Ich kann mir gut vorstellen, für Alsterdorf ein Palliativ- und Hospizzentrum aufzubauen als sichere und tragfähige Anlaufstelle für Menschen in den letzten Phasen ihres Lebens sowie ihre Angehörigen.

Uwe Mletzko

Wie wir miteinander leben und aufeinander zugehen, ist immer an unsere Werte und eine Haltung gebunden. Auch die ESA ist stark in ihren Leitwerten Würde, Freiheit, Verantwortung, Nächstenliebe, und Gerechtigkeit verhaftet. Haben Sie einen Wert, der Sie durchs Leben trägt und der Sie leitet?

Mich begleiten seit jeher zwei Werte: Würde und Gerechtigkeit. Mein Vater hat früher immer von einer ausgleichenden Gerechtigkeit gesprochen. Meine Schwester und ich haben daher nicht immer das gleiche bekommen aber es war in der Wertigkeit ausgeglichen. Gerechtigkeit ist wichtig, vor allem in dem Wissen, dass es oft nie ganz erreicht werden kann. Es wird immer eine gefühlte Ungerechtigkeit geben. Hier geht es darum, gut zu kommunizieren und transparent zu sein.

Bis heute bin ich zudem den Müttern und Vätern des Grundgesetzes aus tiefstem Herzen dankbar für den Satz “Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Daran müssen wir uns jeden Tag auch in unserer Arbeit messen lassen. Aus unserer christlichen Sicht heraus ist jeder Mensch als von Gott geliebter Mensch in seiner Würde geachtet – sie ist ihm von Gott gegeben. Für mich ist das das größte Geschenk. Und so sind wir auch für alle Menschen, die zu uns kommen, Würdegestalter – von der alten Frau, die an Demenz erkrankt ist bis zum Patienten im hochspezialisierten Pflegebett oder den Mitarbeitenden in der Werkstatt, die ihre Fähigkeiten einbringen.

Wenn wir auf die Gesellschaft insgesamt schauen – wie schätzen Sie denn den aktuellen Stand der Inklusion in unserer Gesellschaft ein?

Menschen mit Behinderungen erleben täglich immer noch viele Begrenzungen: im Miteinander, beim Arzt, beim Einkaufen. Wenn zum Beispiel in einem Mehrfamilienhaus ein Mensch mit Behinderung einzieht, dann sind Nachbarn oft skeptisch und unsicher. Es gibt immer noch sehr wenige Berührungspunkte und ich sehe viele, die sich scheuen, Menschen mit Behinderungen so anzusprechen wie jeden anderen Nachbarn auch. Da braucht es Übersetzer, die vorhandene Ängste aufnehmen. Im übertragenen Sinne benötigen wir also Sprachkurse und vor allem Begegnungsräume. Wir müssen deutlich machen, dass Inklusion nicht weh, sondern gut tut, und zwar allen.

Wir sind immer noch mitten in der Corona-Pandemie. Was nehmen Sie bisher mit aus dieser Zeit?

Zu Beginn der Coronazeit habe ich eine große Rücksichtnahme wahrgenommen, aber diese hat leider im Laufe der Zeit schon wieder abgenommen. Ich beobachte die aktuelle Situation mit großer Sorge, insbesondere mit Blick auf die Kraftreserven der Mitarbeitenden. Wir müssen sie ganz eng begleiten und ihnen Halt geben. Eine wesentliche Aufgabe der Leitungskräfte wird in den kommenden Monaten darin bestehen, den Kolleginnen und Kollegen den Rücken zu stärken.

Und wir sollten uns weiterhin immer wieder bewusst machen, dass wir im übertragenen Sinne ganz nah beieinanderstehen müssen. Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Ich habe absoluten Respekt vor Entscheidungen einzelner Menschen, wenn sie diese nur für sich treffen. Aber im Kontext unserer Arbeit mit und für andere Menschen wird es eine große Aufgabe sein, Mitarbeitende ohne Druck gut zu begleiten bei der Entscheidungsfrage des Impfens. Wir wollen niemanden verlieren, gleichzeitig wird aber die Impfpflicht diskutiert und dieser Spagat wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Monate.

Nun hat gerade die neue Bundesregierung ihre Arbeit aufgenommen. Was wünschen Sie sich denn von der neuen Regierung?

Im Koalitionsvertrag ist zur Eingliederungshilfe vieles aufgenommen, das in den nächsten Jahren bedacht und verändert werden muss. Ein Beispiel ist sicherlich die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung. Es wird auch hier in Hamburg wahrscheinlich noch viele Menschen geben, die beim Arzt um die Ecke nicht oder nur mühsam ins Behandlungszimmer kommen oder aber keine passende Praxiseinrichtung, beispielsweise Behandlungsstühle, vorfinden. Gegebenenfalls hat auch der Arzt zu wenig Kenntnisse über die behinderungsbedingten Erkrankungen mit Bezug auf das aktuelle Krankheitsbild, was eine gute Behandlung oder Begleitung erschwert. Auch die Versorgung im Krankenhaus muss behindertengerecht erfolgen. Daran müssen wir arbeiten.

Ein weiteres wichtiges Thema ist natürlich auch das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Wir tun gut daran, dieses weiterhin sehr aufmerksam zu begleiten bei der Frage, ob das, was das BTHG wollte, am Ende auch umgesetzt werden kann. Ich habe die Entstehung des BTHG im Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. schon eng begleitet und sehe dort viele gute Inhalte. Jetzt sind wir alle ein paar Jahre weiter und müssen genau hinschauen und überprüfen, wie es gut weitergehen kann.


››› Zur Person

Uwe Mletzko, Jahrgang 1966, ist Theologe und Diakoniewissenschaftler und arbeitete neben seinem langjährigen Pfarrdienst als persönlicher Referent des Präsidenten der Diakonie Deutschland und ist seit 15 Jahren führend in diakonischen Einrichtungen und Unternehmen tätig. Ab 2016 war er theologischer Geschäftsführer der Diakovere gGmbH in Hannover, zudem seit Anfang 2020 Geschäftsführer der Arbeitsfelder Altenhilfe, Behindertenhilfe und Jugendhilfe. Lehrtätigkeiten und ehrenamtliche Nebenaufgaben im Bereich der bundesweiten evangelischen Behindertenhilfe begleiteten zudem seinen Berufsweg.