Wie geht LIEBE in Krisenzeiten?

Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, ist dieser Frage nachgegangen. Fündig geworden ist er bei Helen und Florentino, zwei unterschiedlichen Romanhelden, die von Liebe erzählen und von Geduld in Zeiten der Pandemie.

Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas

Das Jesus-Bild im Krankenzimmer hängt sie in den Schrank und treibt aus purer Bosheit eine ganze Krankenstation in den Wahnsinn: Helen, 18 Jahre alt und Titelheldin eines Bestsellers, der weibliche Sexualität und die evangelische Krankenhaushilfe auf eine bis heute unnachahmliche Weise zusammenbringt.

Die Autorin: Charlotte Roche. Als ihr Romandebüt „Feuchtgebiete“ 2008 mit der Hauptfigur Helen erscheint, beantragt die Stadt Witten, das Werk als jugendgefährdend zu verbieten, eine Literatursendung des ZDF erklärt es für literarisch wertlos.

In den Handel darf es trotzdem. 1,3 Millionen Exemplare werden auf Anhieb verkauft, zwei Kinoproduktionen folgen. Insofern beweist die geschäftstüchtige Charlotte Roche, dass sie genauso gut provozieren wie rechnen kann.
Ihr Roman zeigt einmal mehr: „Sex sells“, selbst in Zeiten von YouTube, wo doch scheinbar alle Tabus entzaubert sind. Wie gelingt das Charlotte Roche?

Auf den ersten Blick durch einen letzten Tabubruch, der ihre Leserinnen und Leser in anatomische Regionen führt, die bis dato aus gutem Grund nur Ärztinnen und Ärzten einer proktologischen Station vertraut gewesen sein dürften, also Experten für den Darm.

Auf den zweiten Blick lebt ihre Titelheldin aber auch vor, welche Rolle Liebe in Zeiten von Krisen und Krankheit spielt. Damit zurück zu Helen. Helen, 18 Jahre alt, leidet unter der Scheidung ihrer Eltern. Um sie wieder zusammenzubringen, reißt sie sich absichtlich den Allerwertesten auf. An ihrem Krankenbett, so hofft und betet die bekennende Atheistin immer wieder zum „lieben, nicht vorhandenen Gott“, werden sich ihre Eltern ihr zuliebe wieder versöhnen.

Sie ahnen es schon: Das klappt nicht. Enttäuscht wird auch Helens Vorstellung davon, wie viel Zeit viel beschäftigte Krankenschwestern wohl zur Verfügung haben, um sich immer wieder ihren Eskapaden zu widmen.

Dafür entdeckt Helen etwas anderes: Ihre Sympathie für einen jungen Krankenpfleger, den sie, als sie weibliche Konkurrenz wittert, mit der Pflege ihres Allerwertesten beauftragt. Und ein sonderbares Gefühl, dass sie nach den Kurzbesuchen einer Grünen Dame der evangelischen Krankenhausseelsorge empfindet. Irgendwann erkennt Helen: Dieses Gefühl ist Trost.

Am Ende erfüllen sich Helens Wünsche nicht so, wie sie es sich vom lieben, nicht vorhandenen Gott erhofft hat. Dafür findet sie zwischen Mullbinden und Antiseptikum Trost, Liebe und Sinn. So schockt Charlotte Roche ihr Publikum mit einer frommen Pointe: Helen, die experimentierfreudige Nervensäge, wird am Ende ehrenamtliche Mitarbeiterin der evangelischen Krankenhausseelsorge, keine feine, aber immerhin: Grüne Dame.

„Die Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen treibt Menschen an“

Das Buch mag frivol sein, gottlos ist es nicht. Es zeigt, was Menschen unfassbar stark antreibt: die Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen. Darum sind Epidemien, die unsere Beziehungen untereinander unterbrechen oder zerstören, so katastrophal. Sie bedrohen und nehmen uns das, was uns jenseits aller materiellen Güter am meisten mit Glück und Sinn erfüllt. Und sie stellen uns und unsere Beziehungsfähigkeit in diesen Tagen auf eine unglaublich harte Geduldsprobe.

„Unsere Beziehungsfähigkeit wird zurzeit auf eine harte Probe gestellt“

Davon erzählt auch der Roman „Liebe in Zeiten der Cholera“ von Gabriel Márquez. Titelheld: Florentino. Mit 18 Jahren verliebt er sich unsterblich in Fermina, beide wollen heiraten. Aber ihr Vater hat für sie eine gute Partie aus der Oberschicht vorgesehen. Der Ausbruch der Cholera trennt das Liebespaar, weil Fermina, vermeintlich infiziert, im Krankenhaus den talentierten jungen Arzt Juvenal Urbino kennenlernt. Er ist der Wunschkandidat ihres Vaters, und so heiratet sie kurzentschlossen den Mediziner. Für Florentino beginnt damit eine 50-jährige Leidenszeit. Er tröstet sich durch eine planmäßig geführte Liste von Affären, aber seinen Traum gibt er nicht auf. Ferminas Ehemann besiegt die Cholera, verliert aber ihr Herz. Er betrügt sie ausgerechnet mit einer protestantischen Theologin namens Lynch und stirbt nach fünfzig Ehejahren beim Versuch, in seinem Garten einen Papagei mit einem Käfig einzufangen.

Nach der Trauerfeier lädt Florentino die Witwe Fermina zu einer Flussfahrt ein. Romantisch ist das Setting nicht. Die Bäume entlang des Flusses sind abgeholzt, und wegen der gelben Cholera-Flagge am Heck des Schiffs bleiben sie die einzigen Passagiere, finden aber – älter geworden – zum Kern ihrer Liebe zurück.

Mir zeigen beide Romane: Liebe und Sexualität gehören zu dem, was uns Menschen am meisten fasziniert, ob mit 18 oder 68.

Davon ist auch im Buch der Bücher viel zu lesen. Welche Sehnsucht dahintersteckt, bringt die Bibel schon auf den ersten Seiten auf den Punkt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Darum treffen die Maßnahmen gegen Corona diejenigen besonders hart, die ohnehin schon oft allein sind: Obdachlose, Kranke, Trauernde, Pflegebedürftige. Erlebt hat unsere Evangelische Stiftung Alsterdorf schon den Kampf gegen die Cholera-Epidemie 1892 in unserer Stadt, damals waren junge Menschen besonders gefährdet. Wenn wir uns in diesem Heft nun mit Liebe und Sexualität beschäftigen, geht es auch um das, was die junge Romanheldin Helen als ihre Berufung entdeckt: dass sich Ethos und Eros nicht ausschließen, sondern beide zur Leidenschaft des Menschseins dazugehören. Ich wünsche uns, dass uns diese Leidenschaft hilft, Liebe in Zeiten der Krise immer wieder neu zu erfinden.

Bleiben Sie behütet.
Hanns-Stephan Haas