„Keine Ehe vor dem Sex“

Die dänische Paar- und Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning gilt als Deutschlands bekannteste Sex-Expertin. In ihrer Praxis in Hamburg-Eppendorf bietet sie Paartherapie, Single-Coaching und Sexualberatung an. Das Alsterdorf-Magazin sprach mit der Bestsellerautorin über die aktuelle Situation, Trends beim Thema Liebe und Beziehungen.

Frau Henning, bevor wir uns den Trends und Entwicklungen zum Thema Liebe und Beziehung zuwenden, wie steht es um die Liebe in Zeiten der Corona-Pandemie?

Sie wird gerade auf die Probe gestellt. Die Menschen sind in Sorge über die neue Ungewissheit, um den eigenen Job, über die eigene Perspektive. Manche fühlen sich depressiv oder werden aggressiv auf den Partner, weil plötzlich durch Homeoffice ein ununterbrochenes und ungewohntes Aufeinanderhocken entsteht, das überfordert.

Verändert Corona unsere Beziehungen und Gefühle füreinander?

Wir sollten versuchen, diese Situation anzunehmen. Es ist eine schwierige Phase, aber es gibt ein Danach. Körper und Gehirn sind durch die Pandemie auf Gefahr eingerichtet, also Kampf oder Flucht. Flucht war die vergangenen Wochen allerdings nicht möglich. Da wird der Partner schon auch mal zum Feind.
Es hilft, Zeiten zu verabreden, wo jeder etwas für sich macht – positive Distanz also. Und nichts auf die Spitze treiben bei einem Streit. Den Partner stets mit Wohlwollen und Freundlichkeit betrachten, denn sie oder er kämpft gerade genauso mit sich und dieser Situation.

Ist Verlieben in Zeiten von Abstandsgebot und Kontaktvermeidung überhaupt möglich?

Es gibt viele Möglichkeiten, sich nahe zu sein, ohne sich zu treffen: das Internet und die sozialen Medien, das Gespräch am Telefon und vieles mehr. Gleiches gilt für die Partnersuche. Man muss sich in der Tat nicht live sehen, um sich zu verlieben. Wichtig ist in Krisenzeiten aber auch, gut zu sich selbst zu sein – Selbstliebe zu üben. Ich kann zum Beispiel ein schönes Glas Wein trinken, etwas Besonderes kochen oder in die warme Wanne gehen, mir einfach etwas Gutes tun. Und gerade wenn wir keinen Partner haben, hilft es, in gutem emotionalem Kontakt mit Freunden und Bekannten zu sein.

Nun zurück zu den weitführenden Aspekten unseres Themas: Welche Bedeutung haben Eheschließungen heute? Werden Ehen leichtfertiger beendet?

Früher war es selbstverständlich zu heiraten, manchmal bestand sogar ein gewisser Zwang. Die Menschen haben über diesen Schritt daher weniger nachgedacht. Oder andersherum: Ich selbst habe mit 28 geheiratet, weil ich ungeplant schwanger war und dachte: Ja, warum eigentlich nicht? Heute heiraten viele Paare bewusster und erneuern sogar mehrere Male feierlich ihr Ehegelöbnis. Eine Beziehung, die ich wirklich will, beende ich weniger leichtfertig.

Ist lebenslange Liebe aus der Mode gekommen? Gibt es einen Trend zur seriellen Monogamie, also zu mehreren Beziehungen, die aufeinanderfolgen?

Die Tendenz besteht. Wenn man älter wird, kann sich dieses Muster aber ändern. Ich bin 55, und mein Partner und ich denken gerade, nach fast acht Jahren Beziehung, darüber nach, ob wir heiraten wollen. Ich möchte nicht seriell monogam bleiben, bis ich 90 bin. Ich lege mich jetzt fest. Es geht um wichtigere Themen als in meinen 20ern, etwa Gesundheit. Ist mein Partner, der mich wirklich gut kennt, für mich da, wenn ich ihn später brauche? Der Mensch ist eben grundsätzlich ein Bindungswesen. Sich immer wieder neu zu binden, erscheint gewinnbringend, das Verliebtsein ist schön. Aber bei immer wieder wechselnden Beziehungen kann es an Tiefe fehlen und an „gemeinsamer Vergangenheit“. Ich sage lieber, ich halte einiges aus, dafür hält der andere mich aus. Ich bin angekommen, fühle mich angenommen von meinem Partner und so geliebt, wie ich bin.

Es gibt viele Mölichkeiten, sich nahe zu sein, ohne sich zu treffen

Ist das Lebensmodell der klassischen Familie – Mann, Frau, mehrere gemeinsame Kinder – ein Auslaufmodell?

Familie im herkömmlichen Sinn, dass die Eltern immer Mann und Frau und verheiratet sind, ist tatsächlich kein Muss mehr. Es gibt viele andere Modelle. Denn was heißt eigentlich Familie? Menschen tun sich aus vielerlei Gründen zusammen, um mehr Qualitätszeit mit lieb gewonnenen Menschen zu haben oder gar aus wirtschaftlichen Gründen. Ich habe in meinem Freundeskreis auch einige tolle Familien, bei denen die verheirateten Eltern zwei Männer oder zwei Frauen sind. Oder wiederum Familien sind mit sowohl eigenen als auch Kindern aus früheren Beziehungen, bei denen eine offizielle Ehe niemals infrage käme.

In Großstädten leben immer mehr Singles. Beobachten Sie das auch in Ihrer Praxis?

Singles berate ich nicht mehr so häufig. Aber in meinem Bekanntenkreis nehme ich wahr, dass es viele enttäuschte Frauen in meiner Generation gibt. Sie sind gepflegt, gut gebildet und beruflich erfolgreich, nur – sie finden keinen Partner. Wie Studien zeigen, gibt es eine Tendenz dazu, dass Männer sich, was Alter und Bildung angeht, eher „nach unten“ orientieren, Frauen dagegen eher „nach oben“. Das passt ja kaum zusammen. Auch gibt es, je älter wir werden, eine Überzahl an älteren Frauen, denn Männer haben eine um sechs bis sieben Jahre kürzere Lebenserwartung.

Wie verbreitet ist Polyamorie, dass Menschen Liebesbeziehungen zu mehr als einer Person pflegen, und zwar einvernehmlich?

Das ist ein aktuelles Thema, es ist förmlich Trend. Es kommen häufig Paare zu mir, die mit dem Gedanken spielen, ihre Beziehung zu öffnen. Sie wollen dabei von Anfang an mögliche Fallgruben umgehen und Regeln festlegen. Denn Beziehungen, in denen beide Partner mehrere Menschen lieben, sind nicht einfach und erfordern ein hohes Maß an gegenseitigem Respekt und persönlicher Reife. Auch sollten alle Beteiligten gut über sich selbst und die eigenen Gefühle Bescheid wissen und bereit sein, einiges auszuhalten. Die Sexualforschung diskutiert das Thema eingehend. Denn Menschen können ihre Beziehungen sehr vielfältig gestalten: Ich liebe viele, habe aber nur Sex mit einer Person oder andersherum und so weiter. Wenn wir kulturgeschichtlich zurückgehen, etwa als die Menschen noch als Nomaden lebten, dann finden wir tatsächlich mehr Polyamorie als Zweierbeziehungen, was für den Nachwuchs Vorteile geboten hat, weil die genetische Vielfalt größer war.

Polyamorie ist ein aktuelles Thema

Welche Werte spielen heute in Beziehungen eine Rolle?

Unausgesprochen gelten die herkömmlichen Werte wie Treue, Ehrlichkeit, Respekt. Diese sind bekannt und wollen gelebt werden, aber wenn eine Beziehung langweilig wird, beginnt manchmal der eine oder die andere – Frauen unterscheiden sich in diesem Zusammenhang nicht von Männern –, diese Werte für sich anders auszulegen. In meiner Praxis arbeiten wir dann beispielsweise daran, dass Klienten lernen, sich selbst so zu sehen, wie sie wirklich sind, mit ihren negativen Seiten. Daraus erwächst größere Klarheit, und es finden sich manchmal Lösungen, die vorher unmöglich schienen.  

Ann-Marlene Henning – Fotos: Gunda Warncke

Gibt es noch bedingungslose Liebe?

Ich behaupte, bedingungslose Liebe gibt es zwischen Eltern und ihren Kindern. Wenn jemand aber in einer erwachsenen Liebesbeziehung wirklich alles dafür tun würde, dass diese bestehen bleibt, kann es zu viel des Guten sein. Wenn mir zwei Menschen gegenübersitzen, die sagen, sie liebten sich über alles, antworte ich: „Nein, dann würdet ihr hier nicht sitzen, sondern euch selbst organisieren.“ Niemand sollte durchgehend seinem Partner oder seiner Partnerin zuliebe darauf verzichten, dass wichtige eigene Bedürfnisse erfüllt werden. Menschen unterscheiden sich nun einmal und eine Beziehung besteht gerade darin, dass man sich energisch mit den Differenzen auseinandersetzt.

Was halten Sie von Partnervermittlungen im Internet?

Sie erweitern die Möglichkeiten. Wenn ich lange als Single lebe und es leid bin, meine Freizeit in Bars zu verbringen, und ich auch niemanden über den Job oder Freunde kennenlerne, sind Dating-Portale perfekt. Ich kenne viele Leute, die sich im Netz kennengelernt haben, die glücklich verheiratet oder liiert sind. Über digitale Partner-Börsen ist es manchmal auch leichter, jemanden mit ähnlichen Interessen zu finden. Wobei man sich vorher informieren sollte, welches der vielfältigen Angebote zu einem passt und wie viel Geld man ausgeben möchte.

Wie verändert sich das Dating-Verhalten in der Zeit von Online-Portalen? Gibt es überhaupt noch Liebe auf den ersten Blick?

Man kann sich im Netz zwar einfacher finden und schneller verabreden. Aber erst, wenn wir einander gegenübersitzen, können wir feststellen, ob wir wirklich harmonieren, etwa ob Bildung und Intelligenz passen. Ob wir uns riechen können. Wobei wir bei Liebe auf den ersten Blick wären: Diese entsteht nämlich durch einen Pheromontest unseres Gehirns, bei dem die Duftstoffe, die wir absondern, darauf geprüft werden, ob unsere Immunsysteme weit genug auseinanderliegen, damit gesunde Kinder daraus entstehen können. Das fühlt sich an wie Liebe auf den ersten Blick, weil wir uns „von Natur aus“ mögen. Danach kommen dann erst über die Zeit Gefühle und vieles mehr dazu. Fällt dieser neuropsychologische Test aber negativ aus, finden wir uns eher unsympathisch.

Ist ein Trend erkennbar bei den Problemen, mit denen Paare in Ihre Praxis kommen?

Alle sind zeitlich vollkommen überfordert. Mit einem Gefühl, immer erreichbar sein zu müssen, und mit der Sorge, ansonsten etwas zu verpassen. Menschen verlieren bei diesem Stress häufig den wahren Kontakt zueinander. Ich habe das Spiel „Doch! Doch! Doch!“ entwickelt, damit meine Paare spielerisch wieder mit sich und miteinander in Kontakt kommen. Meine Paare wünschten sich immer Hausaufgaben, damit ebendies einfacher würde. Wer aus den schönen erotischen Motiven der Spielkarten ein Paar gebildet hat, darf den Partner oder die Partnerin etwas fragen, etwa: „Worauf warst du im letzten Jahr besonders stolz?“
Die Fragen der ersten Runde können etwas aufrüttelnd und verstörend sein wie: „Was würdest du am liebsten bei mir ändern wollen?“ Eine Sanduhr zeigt eine Minute für die Antwort an, es geht nicht um Ausdiskutieren. In der zweiten Runde sind die Fragen sexueller, und die Sanduhr läuft immer noch. Erst in der dritten Runde geht es darum, sich feinfühlig körperlich zu berühren, beispielsweise: „Küsse meine Mundwinkel von rechts nach links“, und zwar eine gefühlte Minute lang. Der Sinn des Spiels ist es, sich und die andere Person wieder zu spüren und Sehnsucht zu bekommen. Vordergründig geht es nicht um Sex, aber wer weiß, was nach dem Spiel geschieht …

„Es ist erstaunlich, wie wenig viele Menschen über Sex wissen“, schreiben Sie auf Ihrer Homepage. Welche Wissenslücken meinen Sie?

Der größte Irrtum ist zu glauben, dass beim Sex alles von alleine läuft, dass alles angeboren ist. Daraus wird geschlossen, wenn etwas nicht klappt, dass ich das Problem bin. Dabei wird vieles aus der Sexualität erlernt, ob ich mich hingeben kann oder nicht, ob ich es genieße oder nicht, auch die Techniken. Dieser Lernprozess beginnt ab frühester Kindheit, indem ein Baby beispielsweise übt, „emotionale Intensität“ aufzubauen, oder den eigenen Körper und dessen Möglichkeiten erforscht. Da wir gerade vom Körper sprechen: Männer lesen irgendwo, der durchschnittliche Penis sei 16 cm lang, was natürlich so nicht stimmt, und leiden darunter, weil ihr Glied kleiner ist. Und wer hat gesagt, dass Frauen ihren Höhepunkt beim klassischen Geschlechtsverkehr bekommen? Das ist die denkbar ungünstigste Art, eine Frau zum Orgasmus zu bringen. Und, und, und …

Der größte Irrtum ist zu glauben, dass beim Sex alles von alleine läuft

Die Generation der 68er, die einen freien Umgang mit Sex gefordert hat, kommt in die Jahre. Fallen die Tabus zum Thema Sex im Alter?

Genau das beobachte ich in meiner Praxis. 80-jährige Frauen, die sich sexuell noch nie getraut haben, kommen zu mir und sagen, jetzt will ich es aber wissen! Wie kann ich guten Sex haben? Ich habe vier Kinder, habe aber immer nur „für ihn“ mitgemacht. Nun ist mein Mann verstorben, und ich habe jemanden kennengelernt. Oder eine 75-Jährige möchte unbedingt einen Dildo (Latex-Penis) ausprobieren, und ich nehme für sie diskret das Paket an. Ein weiteres Thema ist der Bereich Körperlichkeit im Altenheim. Es ist eine traurige Tatsache: Ehepaare, bei denen beispielsweise ein Partner einen Schlaganfall hatte, sehen sich vielleicht nur einmal pro Woche. Die Pfleger legen sie aufs Bett, führen ihre Hände zusammen, und sie dürfen eine Stunde miteinander verbringen. Oder, wenn eine Person demenziell erkrankt ist, entscheiden irgendwann die Kinder, die selbst um die sechzig sind. Wenn sie die sexuellen Bedürfnisse ihrer Eltern nicht anerkennen, dann passiert auch nichts. In den nächsten Jahren wird sich hoffentlich einiges ändern, wenn die Baby-Boomer älter werden, denn diese geburtenstarken Jahrgänge bis 1969 stellen eine Generation dar, die sich Verbote nicht einfach gefallen lässt.

Insgesamt habe ich jedoch das Gefühl, dass es eine Gegenentwicklung gibt zum sexuellen Körperkult. Viele Jugendliche duschen nach dem Sport nicht mehr nackt, konservative Gruppen fordern Keuschheit vor der Ehe. Bei mir hängt aber immer noch die Karte „Keine Ehe vor dem Sex“. Ich kann nichts Falsches daran finden, sich (mit Kondom) sexuell auszutoben, um den eigenen Körper und die eigenen Wünsche kennenzulernen, bevor man heiratet.

Werden in Deutschland die Errungenschaften der sexuellen Befreiung infrage gestellt?

Eine rückwärtsgewandte Strömung ist zu spüren, etwa mit dem Wachsen rechter Tendenzen, die für die traditionelle Kleinfamilie eintreten. Bei diesen nehme ich wahr, dass es wieder um das alte Thema geht: Macht der Männer und Unterdrückung von Frauen.


Ann-Marlene Henning finden Sie im Internet unter doch-noch.de