„Sehnsucht nach Liebe und Partnerschaft“

Seit 22 Jahren gibt es die „Schatzkiste“ der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA) – die seinerzeit bundesweit erste Partnerschaftsbörse für Menschen mit Beeinträchtigung.

Es ist eine der großen Fragen, vor denen wohl jeder Mensch in seinem Leben mindestens einmal steht: Wie finde ich einen Partner oder eine Partnerin? Die Sehnsucht, der Einsamkeit zu entkommen, der Wunsch nach Gemeinschaft, Liebe und auch Sexualität ist universell. Im Internetzeitalter bieten Dating- und Partnervermittlungsportale eine Vielzahl an Wegen, um Menschen kennenzulernen, wenn es in der Offline-Welt nicht so einfach klappen sollte.

Erfahrungen mit kommerziellen Partnervermittlungen

Auch viele Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich nach einem Zusammenleben mit einem anderen Menschen sehnen, wenden sich an solche Portale. Das gilt natürlich verstärkt auch in Zeiten von Corona. Doch das kann für sie möglicherweise zu einer „Via Dolorosa“, einem Leidensweg, werden, wie Dr. Michael Wunder formuliert, der Leiter des Beratungszentrums Alsterdorf, einer Einrichtung, die psychologische, therapeutische und pädagogische Hilfen für Menschen mit Behinderung anbietet. Im Vermittlungsvorgang auf den kommerziellen Portalen kommt es nicht nur zu Gebühren, die Menschen mit Behinderung kaum bezahlen können, sondern irgendwann unweigerlich zu dem Moment, an dem die Beeinträchtigung der betreffenden Person in den Fokus gerät – was fast immer das Ende der möglichen Kontaktaufnahme bedeutet.

›››› Die Schatzkiste als erste Partnerbörse für Menschen mit Behinderung

Eine Idee breitet sich aus

Vor 22 Jahren wurde im Beratungszentrum die Idee für einen charmanten Ausweg geboren. Mit den Ressourcen des Zentrums wurde die „Schatzkiste“ gegründet, die damals erste nicht kommerzielle Partnerschaftsbörse für Menschen mit Beeinträchtigungen. Eine Idee, die sich schnell durchgesetzt und heute bundesweit rund 50 Nachfolgebörsen im ganzen Land gefunden hat – „sogar im katholischen Sachsen“, wie Wunder schmunzelnd berichtet.

Die Idee ist so einfach wie überzeugend: Menschen mit Beeinträchtigungen können sich bei der Schatzkiste in eine Kartei eintragen lassen, in der einige Angaben zu ihrer Person und ihren Vorstellungen über die gesuchte Person sowie ein Foto vermerkt sind. Und die Schatzkiste versucht dann, eine geeignete Person aus der Kartei zuzuordnen.

Vom ersten Gespräch bis zum ersten Treffen

Seit zwei Jahren ist Uwe Herschleb dafür zuständig. Der studierte Heilpädagoge ist am Beratungszentrum tätig und neben anderen Aufgaben Leiter der Schatzkiste. „Ich führe immer ein ausführliches Gespräch mit allen Menschen, die sich bei uns melden und in die Kartei aufgenommen werden möchten“, erzählt er. „Ich frage sie danach, wo und wie sie wohnen, welcher Arbeit sie nachgehen und was sie in ihrer Freizeit machen. Wir sprechen neben grundlegenden Fragen wie etwa den Grad ihrer Beeinträchtigung und ihrer Selbstständigkeit vor allem über die Erwartungen, die sie an eine Partnerin oder einen Partner haben. Manche haben sehr konkrete Vorstellungen über das Aussehen, für andere stehen nur das Zusammensein im Alltag und das Sichverstehen im Vordergrund.“

Die Zuordnung zu einer anderen Person aus seiner Kartei erfordere viel Fingerspitzengefühl, wie Uwe Herschleb sagt. „Dann lade ich die beiden zu einem Kennenlerngespräch zu uns nach Alsterdorf ein. Zuerst versuche ich, die Begegnung ein wenig zu unterstützen, doch wenn das geschafft ist, sollten die beiden die nächsten Schritte gemeinsam für sich planen.“

›››› Die Erwartungen an eine Partnerin oder einen Partner sind oft sehr konkret

Persönliche Vermittlung und individuelle Beratung sind die Erfolgskriterien der Schatzkiste, da sind sich Michael Wunder (rechts) und Uwe Herschleb sicher – Fotos: Axel Nordmeier

Vom Umgang mit Einsamkeit während des Lockdowns

All dies, die Vermittlungsarbeit und die begleitende Beratung Einzelner oder der Paare, ist nach einer Corona-bedingten Schließungsphase jetzt vorsichtig wieder angelaufen. Ab März diesen Jahres konnte die Schatzkiste leider kaum etwas tun, da wir aufgrund der Verordnungen schließen mussten. Dennoch konnte eine Reihe von längeren Telefonaten mit dazu beitragen, Stimmungen wenigstens zeitweise wieder aufzuhellen. Oft war es ein „mit jemandem sprechen wollen“, aber auch Fragen zum Umgang mit der Einsamkeit oder zu Schwierigkeiten mit dem*r Partner*in.

Ein langer Weg bis zur Schatzkiste

Bis in die 1990er-Jahre habe es gedauert, dass das Bedürfnis nach Partnerschaft und Sexualität bei Menschen mit Beeinträchtigungen als „normal“ anerkannt wurde, erklärt Dr. Michael Wunder. „Menschen mit Behinderung haben in der Regel eine – wenn man es so ausdrücken darf – unbehinderte Sexualität“, sagt er. „Der einzige Unterschied ist, dass das Thema stärker mit Angst behaftet ist – Angst vor Ablehnung, Angst davor, nicht so angenommen zu werden, wie man ist.“

Wunder bestätigt, dass der Bedarf an unterstützenden Maßnahmen wie die „Schatzkiste“ groß sei. „Oft geht es vor allem darum, der Einsamkeit zu entgehen und Freundschaften zu schließen“, sagt er. Das sei schon vor Corona die durchgehende Erfahrung gewesen und gelte jetzt in besonderem Maße. Sein Beratungszentrum hat seinerzeit darauf rasch reagiert – einmal pro Woche bietet es auch jetzt wieder die „Schwatzkiste“ an, einen offenen Treffpunkt nicht nur für Bewerberinnen und Bewerber aus der Schatzkiste. Dort kann man in einem zwanglosen Rahmen, wenn auch jetzt mit Corona-bedingten Einschränkungen andere Menschen kennenlernen und Bekannte treffen.

›››› Die Schatzkiste als erste Anlaufstelle für Fragen zu Liebe, Partnerschaft und Sexualität

Ein Raum für Liebes- und Partnerschaftsfragen

Aus Sicht des Psychologen und Psychotherapeuten hat die Schatzkiste für Dr. Michael Wunder eine weitere wichtige Funktion. Viele Menschen äußern sich hier zum ersten Mal offen zu Fragen ihrer Vorstellungen von Liebe, Partnerschaft und Sexualität. Und bei einigen können Dinge zur Sprache kommen, die einen möglichen Beratungs- oder sogar Therapiebedarf offenlegen. „Bei vielen Menschen, die einer therapeutischen Behandlung bedürfen, wird das hier sichtbar“, erklärt Wunder. „Da können Traumata aufgrund eines Missbrauchs aufbrechen. Andere Personen können plötzlich panisch reagieren, wenn sich ihr Partnerschaftswunsch tatsächlich verwirklichen könnte. Und bei vielen gibt es auch einen ganz grundsätzlichen Bedarf an sexueller Aufklärung.“

Ebenso müssen die Mitarbeitenden der Schatzkiste behutsam mit den Wünschen und Vorstellungen ihrer Klienten umgehen. „Viele wünschen sich eine Beziehung mit einem nicht behinderten Menschen“, erklärt Wunder. „Dann müssen wir das vorsichtig hinterfragen.“ Dasselbe gilt für den Kinderwunsch.

Erfolgsgeschichte Schatzkiste

Rund 170 Namen stehen derzeit in der Kartei der Schatzkiste. Ein Problem ist, dass sich deutlich mehr Männer als Frauen eintragen lassen. „Vielleicht suchen Frauen seltener nach einer Beziehung und haben eher das Bedürfnis nach Freundschaft als nach Sexualität“, vermutet Uwe Herschleb. Das Missverhältnis kann leider mitunter zur Enttäuschung bei Bewerbern führen. Dennoch ist die „Schatzkiste“ eine Erfolgsgeschichte. Zwar gehen einige der geschlossenen Partnerschaften auch wieder in die Brüche – was aber bei anderen Plattformen kaum anders ist. Wenn Uwe Herschleb aber nach einer erfolgreichen Vermittlung länger nichts mehr von seinen Klientinnen und Klienten hört, freut er sich darüber. „Das ist meist ein gutes Zeichen“, sagt er lachend.

Schatzkiste und Corona heute

Viele Menschen, die regelmäßig zum Treffpunkt der Schwatzkiste kamen, waren sehr traurig, da die oft erlebte Einsamkeit vor Corona während des Lockdowns noch viel schwieriger zu bewältigen war. Strukturgebende Arbeit oder das Treffen von Kolleg*innen am Arbeitsplatz fielen weg, was die Austauschmöglichkeiten auf null setzte und die Einsamkeit verstärkte.

Da die Schatzkiste nun wieder unter bestimmten erarbeiteten Hygienemaßnahmen angelaufen ist, fühlen sich die meisten nur etwas vom ungewohnten Ablauf und eben den Vorkehrungen irritiert. Jedoch gehen bisher alle Besucherinnen souveräner und selbstverständlicher damit um als so manche Nutzerinnen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Grundsätzlich leiden aber viele Interessierte, da Discos, Freizeitangebote, Gruppentreffs nicht stattfinden, was eine Partner*innensuche neben der Schatzkiste deutlich erschwert.

„Die Ressourcen, um in dieser Situation zu unterstützen, sind sehr begrenzt. Wir sind froh, dass die geltenden Regeln ermöglichen, dass wir unser normales Angebot – mit Einschränkungen – durchführen können. Das bedeutet, die Schwatzkiste ist wieder geöffnet, und Karteiaufnahmen, Beratungsgespräche sind wieder nach Terminabsprache donnerstags realisierbar. Jedoch mit mittlerweile schon wieder einer sehr langen Wartezeit. Aber Vermittlungen hatten wir seit der Öffnung Ende Juli trotzdem schon“, sagt Michael Wunder und freut sich.


Zur Schatzkiste geht es hier lang.

Kontakt Schatzkiste Alsterdorf:
Uwe Herschleb
Telefon 040 5077 3542


Mit der Unterstützung einer Vielzahl von Spender*innen konnte das Angebot der Schatzkiste aufgebaut werden. Damit sie weiterhin viele Menschen zusammenbringt, ist sie auf Ihre Spenden angewiesen:
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Stichwort: Schatzkiste