Der Wegbereiter: Heinrich Matthias Sengelmann

Heinrich Matthias Sengelmann

Der Hamburger Pastor und Vorkämpfer der Heilpädagogik hat mit der Gründung der Alsterdorfer Anstalten im 19. Jahrhundert Weichen hin zum heutigen Weg der Inklusion gestellt. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ehrt ihn anlässlich seines 200. Geburtsjahres.

„Nächster Halt: Sengelmannstraße“, tönt es aus dem Lautsprecher der U-Bahn zwischen den Stationen Alsterdorf und Ohlsdorf. Will man die Evangelische Stiftung Alsterdorf besuchen, muss man hier aussteigen, dann noch kurz die vierspurige Sengelmannstraße überqueren und schon ist man da. Von dem Namensgeber der U-Bahn-Haltestelle, der stark befahrenen Flughafenzubringerstraße und einem Krankenhaus im schleswig-holsteinischen Bargfeld-Stegen (Heinrich Sengelmann Kliniken) und diversen anderen Einrichtungen der Stiftung wissen heute vielleicht nur historisch interessierte oder aus dem diakonischen Umfeld stammende Menschen, dass es sich bei Heinrich Matthias Sengelmann um den Gründer der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf, der damaligen Alsterdorfer Anstalten, handelt.

Zu Zeiten, als es noch keine Sengelmannstraße und keine Hamburger U-Bahn gab, war dies jedoch ganz anders: Heinrich Matthias Sengelmann war im 19. Jahrhundert ein anerkannter Theologe und eine bekannte Hamburger Persönlichkeit, deren Lebenswerk, die heutige Ev. Stiftung Alsterdorf, heute zu den großen Einrichtungen der Diakonie in unserem Lande zählt – Sengelmann war ein „Gründungsvater“.

In diesem Jahr heißt es: 200 Jahre Sengelmann

Das Jahr 2021 bietet eine hervorragende Möglichkeit, die Person Sengelmanns einmal stärker in den Blick zu nehmen und sie in das öffentliche Bewusstsein zu rücken: Die Evangelische Stiftung Alsterdorf begeht das „Sengelmannjahr“, ausgehend von seinem Geburtsjahr 1821. In diesem Jahr heißt es also: „200 Jahre Sengelmann“.

Kindheit im Herzen der Stadt und eine „Erweckung“

Heinrich Matthias Sengelmann wird am 25. Mai 1821 in Hamburg am Schweinemarkt (heute in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofs, Beginn der Spitalerstraße) geboren. Er ist der einzige Sohn des Gastwirts und Viehhändlers Jochen Hinrich Sengelmann und seiner Frau Margarethe. Heinrich wächst am geschäftigen Schweinemarkt auf und besucht später die Gelehrtenschule Johanneum. Angeregt durch seine Mutter und Großmutter, geht er in die Gottesdienste des stadtbekannten Predigers Johann Wilhelm Rautenberg, der seine Gemeinde in St. Georg immer wieder zu diakonischer Mitverantwortung aufruft. Aus gutem Grund: Insbesondere Menschen mit Behinderung lebten im damaligen Hamburg entweder in ihren Familien, unter zumeist unzumutbaren sozialen Verhältnissen, oder in den sogenannten „Allgemeinen Armenanstalten“. In diesem Rahmen war eine angemessene Begleitung oder Förderung undenkbar. Zudem wurden damals im gesellschaftlichen Kontext Menschen mit Behinderung Entwicklungsfähigkeit und Bildungsfähigkeit abgesprochen. Die in den Gottesdiensten Rautenbergs postulierten Gedanken und die von ihm gegründete „Sonntagsschule“ in St. Georg faszinieren Sengelmann und werden seinen weiteren Lebensweg prägen, auf dem er seine diakonischen Begabungen unter Beweis stellen wird.

Pastorat in Moorfleet 1846-1850
Das Pastorat in Moorfleet, wichtiger Ausgangspunkt von Sengelmanns weiterem Wirken

Wie sich dieser Lebensweg bis hin zum Direktor der Alsterdorfer Anstalten gestalten sollte, lässt sich schon zu einem frühen Zeitpunkt in Sengelmanns Leben deutlich erkennen: Neben seinem erfolgreichen Studium der Theologie studierte er auch Orientalistik und Philosophie und begann seine Arbeit als frischgebackener Pastor in der kleinen Gemeinde Moorfeet vor den Toren Hamburgs. Im Jahr 1850 gründete er dort die „Christliche Arbeitsschule“, die 1853 zum „Nikolai-Stift“ umgewandelt wird. Damit nimmt seine Hinwendung zu gesellschaftlich benachteiligten Menschen deutliche Formen an.

Eine Biologiestunde in der Schule per „Anschauungsunterricht“
Eine Biologiestunde in der Schule per „Anschauungsunterricht“

Der Grund für die Schul- und Stiftsgründung war sehr naheliegend, wie Sengelmann schreibt: „Unter den Entschuldigungsgründen, die für die Schulversäumnisse von den Eltern angeführt werden, kommt häufg derjenige vor, daß sie ihre Kinder zur Arbeit mitbenutzen müßten.“ Diesem Zustand, der den Kindern Bildung und Erziehung vorenthält, will er begegnen: „Dieß geschiehe durch eine Anstalt, in welcher die Kinder den nothwendigen Unterricht und Anleitung zu allerlei nützlichen Hausarbeiten erlangen, die ihnen überdies einen gesunden Mittagstisch bietet – und die sie aus der Unordnung, der Unreinlichkeit und dem unbehaglichen Leben der Armuthssphäre herausreißt.“

Christliches Verständnis: Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen

Sengelmann sah aus seinem christlichen Verständnis des Menschen heraus alle Menschen als gleichwertig und gleichberechtigt an, was für ihn die Solidarität mit den „schwachen Menschen“ in der Gesellschaft bedeutete. In der Lebenssituation der Menschen mit Behinderung, die unter den herrschenden gesellschaftlichen Umständen besonders litten, sah er „ein ernstes Fragezeichen für die Christenheit“ – und für ihn selbst war es die Herausforderung, tatkräftig an der Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse mitzuarbeiten.

Pastor Sengelmann bei einer Andacht in der Kapelle
Pastor Sengelmann bei einer Andacht in der Kapelle

Einblick in diese Verhältnisse hatte er zur Genüge: Nachdem er 1853 auf eine Pfarrstelle an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis gewechselt war, die er bis 1867 innehatte, konnte er während seiner Hausbesuche in den beengten Quartieren der ärmsten Stadtbevölkerung, den „Gängevierteln“, mit eigenen Augen sehen, wo dringender Handlungsbedarf bestand – und hier insbesondere bei den besonders chancenlosen Menschen mit Behinderung.

„Jeder Mensch ist im Grunde bildungsfähig, ganz gleich, wie schwach seine Sinne entwickelt sind“

H. M. Sengelmann

Nach seinem christlichen Menschenverständnis waren alle jene, denen drin­gend geholfen werden musste, „Brüder und Schwestern im gemeinsamen Herrn“. Nicht nur das: Es reifte in ihm die Auffassung, dass jeder Mensch im Grunde bildungsfähig ist, ganz gleich, wie schwach seine Sinne entwickelt sind: „Der Begriff der Bildungsfähigkeit ist offenbar zu eng, wenn man nur die Intelligenz zum Maßstabe macht“, schreibt Sengelmann in seinem Buch „Idiotophilus“ 1885, das erste systematische Lehrbuch zum Verständnis und zur Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung.

Heinrich Matthias Sengelmann trug umfangreiche Erkenntnisse und Erfahrungen über die damalige Arbeit mit Menschen mit Behinderung in seinen Büchern zusammen

Es geht los in Alsterdorf

Das St. Nikolai-Stift im kleinen Dorf Moorfleet war längst nicht ausreichend zur Aufnahme all derer, die Sengelmann im Blick hatte. Etwa eine „Kutschenstunde“ vor den Toren Hamburgs, in Alsterdorf, wird, auch unter Einsatz von Sengelmanns eigenem beträchtlichen Vermögen, ein passendes Gelände mit Entwicklungspotenzial gefunden. Nach dem Umzug aus der Marsch von Moorfeet auf die Geest von Alsterdorf wird 1860 zunächst das Nikolai-Stift für die von Verwahrlosung bedrohten, aber geistig nicht behinderten Kinder und Jugendlichen ganz im Sinne der christlichen Arbeitsschule aufgebaut.

Dienstbesprechung mit Pastor Sengelmann und Mitarbeitern
Dienstbesprechung mit Pastor Sengelmann und Mitarbeitern

Christliche Heilpädagogik: Fördern der Bildungspotenziale

Wenig später wird mit deutlichem räumlichen Abstand zum Nicolaistift, das durch die Übernahme der Jungendarbeit durch den Hamburger Senat später immer mehr an Bedeutung verlor, 1863 mit dem Haus Schönbrunn das „Asyl für blöd- und schwachsinnige Kinder“ gegründet, die Keimzelle der sich dann rasch entwickelnden „Alsterdorfer Anstalten“. Im 19. Jahrhundert bezeichneten die Begriffe Blöd- und Schwachsinn eine Intelligenzminderung bzw. angeborene Intelligenzschwäche. Die tägliche Arbeit mit den Bewohnerinnen ist dabei von Beginn von Sengelmanns theologischer Überzeugung geprägt, dass Menschen als gleichwertig zu betrachten sind. Dies wirkt sich vor allem auf sein ganzheit­liches pädagogisches Konzept für die Einrichtung aus, mit dem er dem Verständnis von Behinderung als körperlichem Defekt und individuellem Defzit die Betonung der großen Bil­dungspotenziale von Menschen mit geistigen Behinderungen entgegensetzte, die durch die Schaffung eines geeigneten Lebensumfeldes zu erschließen seien.

Auf den Konferenzen wurde die Solidarität der Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung angemahnt

Als einfussreicher Präsident der 1874 gegründeten „Konferenz für die Idioten-Heil-Pfege“, später „Deutsche Konferenz für das Idiotenwesen“, ist er maßgeblich daran beteiligt, dass reformerische Erzie­hungsansätze und Fragen der Bildungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung landesweit diskutiert werden und Einzug in andere Anstalten erhalten.

Jenny Sengelmann
Sie war klug, gewissenhaft und streng: Sengelmanns Ehefrau Jenny

Heinrich und Jane

Tatkräftige Mitarbeit für das große Projekt erfährt Sengelmann dabei durch seine zweite Frau Jane (genannt Jenny) Elisabeth von Ahsen, Tochter eines Amtskollegen an St. Michaelis. Jane ist mehr als die Frau, die ihrem Mann den Rücken freihält und den Herren den Kaffee kocht: Jane Sengelmann ist von Beginn der Alsterdorfer Arbeit mit ganzem Herzen (und auch mit ihrem Vermögen) dabei und gilt besonders in Zeiten der Abwesenheit ihres Mannes als geachtete Chefn mit großem Durchblick, die akribisch auf die Einhaltung der Regeln und der Ordnung des Anstaltsbetriebes achtet. Man berichtet von ihr: „Jane ist eine tatkräftige, temperamentvolle, hochbegabte Frau“, deren Organisationstalent allseits anerkannt war. Ihr strenges Urteil und ihre scharfe Kritik waren unter den Angestellten gefürchtet: „In den Kleider- und Schuhlagern, in der Wäscherei, den Nähstuben, der Küche war sie die treibende Kraft. Nichts entging ihr. […] Jeder Verschwendung ist sie abhold.“

Alte Pforte bis 1913
Alte Pforte bis 1913

Sengelmann schafft einen Rahmen

Ein 1865 gegründetes sechs­köpfges „General-Hülfs-Comité der Alsterdorfer Anstalten“ unter der Leitung Sengelmanns ist ab 1866 der Vorstand der Alsterdorfer Anstalten, der sie vor den Behörden nun als eigenständige Organisation vertreten kann. Dieses Gremium übernahm die Verwaltung der Gartenbauschule und der Schmiede/Schlosserwerkstatt wie auch die Aufsicht über den neu geschaffenen „Verlag der Alsterdorfer Anstalten“, der die Herausgabe des „Boten aus dem Alstertal“, einer 1860 gegründeten kleinen Zeitschrift, übernahm und bald schon verschiedene Schriften auf den Büchermarkt brachte. Weiter war das „General-Hülfs-Comité“ für die Organisation der Alsterdorfer Feste zuständig. Zudem hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die finanziellen Mittel zum Bau einer Kapelle auf dem Anstaltsgelände aufzubringen.

Historische Ansicht der St. Nicolaus-Kirche
Historische Ansicht der St. Nicolaus-Kirche

Arbeits- und Beschäftigungsbereiche als „Vorschulen für den Lebenslauf“

Wie sehr schon in den Anfängen der Alsterdorfer Anstalten dabei der Bereich Arbeit ernst genommen wird, zeigt schon die Tatsache, dass zeitgleich mit der Einrichtung des Asyls die „Gartenbauschule“ gegründet wird. Neben der Pfege der Grünanlagen des sich ständig weiterentwickelnden Geländes sorgen die Beschäftigten auch für frisches Gemüse, das zum Teil auch auf dem Gemüsemarkt verkauft wird. Und der Beschäftigungs- oder Arbeitsbereich weitet sich immer mehr aus: Im Laufe der Zeit kommen auch eine Strohfechterei, Laubsägerei, Schusterei und eine Schneiderei hinzu. Viele Arbeitsbereiche der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf, wie z.B. Stuhlfechterei, Schusterei, Alstergärtner – unter dem Dach von Alsterarbeit –, können also mit Fug und Recht auf die lange Tradition der von Sengelmann Mitte des 19. Jahrhunderts initiierten Arbeitsfelder verweisen.

Von Dr. Nevile zum Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf

Nach dem ersten Todesfall eines Bewohners wird Sengelmann die Notwendigkeit einer anstaltseigenen medizinischen Versorgung deutlich vor Augen geführt. Der Eppendorfer Arzt Dr. Georg Nevile wird als Hausarzt eingestellt und wirkt bis 1886. Bedingt durch die ständig wachsende Bewohner*innenzahl der Alsterdorfer Anstalten reicht eine kleine ärztliche Station bald nicht mehr aus: 1897 wird der Vorläufer des heutigen Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf, das Krankenhaus Bethabara gegründet, fnanziert durch eine Jubiläumsbitte anlässlich des 50-jährigen Amtsjubiläums Sengelmanns.

Die damaligen Alsterdorfer Anstalten um 1900
Die damaligen Alsterdorfer Anstalten um 1900

Der Wegbereiter und sein Erbe

Als Heinrich Matthias Sengelmann am 3. Februar 1899 stirbt, leben bereits 608 Bewohnerinnen in den Alsterdorfer Anstalten. Das Lebenswerk des Praktikers und christlichen Heilpädagogen war vor allem durch die Hinwendung zum bedürftigen und hilfosen Kind und den „Ärms­ten der Armen“ geprägt. Die sich in der Zeit nach seinem Tod vollziehende Grenzverschiebung – weniger pädagogischer, mehr medizinischer Heilungs ansatz – fand ihren abscheulichen Höhe­punkt in der Deportation und Ermordung von weit über 500 Bewohnerinnen der Alsterdorfer Anstalten im Rahmen der NS-„Euthanasie“. Auch nach Ende des Krieges konnte man lange Zeit eine „liebevolle Zuwendung“, wie sie Sengelmann in der Zeit seines Wirkens propagierte und praktizierte, nicht erkennen. Es bedurfte eines radikalen Paradigmenwechsels, bis man mit der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf den konsequenten Weg zur Anerkennung des Menschen mit Behinderung als gleichberechtigter Partner hin zur Inklusion beschritt. Und es kann in Anbetracht seiner Lebensleistung angemessen gewürdigt werden, dass Heinrich Matthias Sengelmann als Vordenker und „Macher“ ein Wegbereiter für die heutige Inklusionsarbeit ist.

Sengelmanns „Stationen“:

Sengelmann mit Hut
Sengelmann mit Hut
  • Mai 1821: Geburt Heinrich Matthias Sengelmanns
  • 1825– 1840: Besuch der Kinderschule und des Gymnasiums Johanneum
  • 1840: Beginn des Studiums der Orientalistik und Theologie in Leipzig
  • 1841: Fortsetzung des Studiums, besonders der Theologie
  • 1843: Promotion zum Doktor der Philosophie
  • 1843: Theologisches Examen in Hamburg
  • 1843– 1846: Tätigkeit als Hauslehrer; Lehrer und Oberlehrer an Rautenbergs „Sonntags­schule“
  • 1846: Wahl zum Pastor der Landgemeinde Moorfeet 1848: Mitglied des „Vereins für Innere Mission“
  • 1850: Eröffnung der „Christlichen Arbeitsschule“ in Moorfeet
  • 1853: Wechsel auf die Pfarrstelle an der Hamburger St. Michaelis-Kirche
  • 1853: Die Christliche Arbeitsschule wird in das „St. Nikolai-Stift“ umgewandelt
  • 1859: Heirat mit Elisabeth von Ahsen, Tochter eines Amtskollegen an St. Michaelis
  • 1860: Verlegung des Nikolai-Stifts nach Alsterdorf
  • 1863: Einweihung des „Asyls für schwach- und blödsinnige Kinder“; Beginn der Arbeit für Behinderte in Alsterdorf, Gründung der Alsterdorfer Anstalten
  • 1867: Aufgabe des Pastorenamts an St. Michaelis. Direktor der Alsterdorfer Anstalten
  • 1874/1875: Mitglied der Hamburger Bürgerschaft
  • 1892: Erfolgreiche Maßnahmen gegen die Choleraepidemie, Alsterdorfer bleiben verschont
  • 1896: 50-jähriges Ordinationsjubiläum
  • Februar 1899: Tod Heinrich Matthias Sengelmanns

››› Info

Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ehrt ihren 1821 geborenen
„Gründer“ mit Veranstaltungen und Aktionen. Näheres finden Sie unter:
www.sengelmann-alsterdorf.de

Alle Fotos aus dem Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf