Dirk Ahrens

Kirchliches Unternehmen in einer vielfältigen Gesellschaft

Der Hamburger Landespastor Dirk Ahrens erläutert, was die Diakonie von anderen Sozialunternehmen unterscheidet.

Der gesellschaftliche Einfluss der christlichen Kirchen nimmt seit Jahrzehnten ab. Sind Fragen des Glaubens und der Religion in der heutigen Zeit reine Privatsache geworden?

Zu einem großen Teil sind das in der Tat Fragen, bei denen es vor allem um die per­sönliche Lebensgestaltung geht. Ich wehre mich aber dagegen, wenn das zum Argu­ment wird, um das Religiöse ausschließlich ins Private zu verbannen. Ich finde es erstre­benswert, in einer liberalen Gesellschaft zu leben, in der man sein religiöses Bekenntnis durch Haltung und Symbole öffentlich ma­chen kann, ob in Form eines Kreuzes, einer Kippa oder eines Kopftuchs.

Wie würden Sie den Stellenwert von Re­ligion und Glauben heute beschreiben?

Der Stellenwert von Religion und Glauben ist im öffentlichen Diskurs sicher geringer als im privaten Leben. Es gibt eine große Sehn­sucht nach Religiosität und Spiritualität. Vie­le Menschen haben ein Bedürfnis nach Halt. Sie suchen nach Antworten auf die Frage, was sie im Leben trägt und was größer ist als sie selbst. Daneben gibt es einen Wunsch nach Harmonie, nach Einklang zwischen sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Umwelt und nach ekstatischen Momenten, in denen man über sich selbst hinausgehen kann. So kann es religiöse Erfahrungen an Orten geben, die fernab von Gotteshäusern liegen, etwa beim Tanzen in Clubs.

Dirk Ahrens
Dirk Ahrens – Fotos Axel Nordmeier

Sie haben den Begriff Halt benutzt. Gibt es hier in der heutigen Zeit einen Mangel, der durch den Glauben gefüllt werden kann?

In der Diakonie sind wir sehr stark mit den einer vielfältigen fragilen Formen des Menschseins und den Bruchstellen unserer Existenz beschäftigt. Deshalb sind wir immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie wir in den großen Problemen Halt finden, die wir im jeweili­gen Moment zu bewältigen haben. Darüber hinaus leiden viele Menschen an einem Gefühl der Überforderung. Angesichts der vielen Fragestellungen unserer Zeit, zusätz­lich zu den Problemstellungen, die wir in unserer individuellen Existenz zu bewältigen haben, kommt irgendwann die Frage auf, worauf wir eigentlich vertrauen können.

„Es gibt eine große Sehnsucht nach Religiosität und Spiritualität“

Ist das im vergangenen Jahr angesichts der Pandemie noch einmal deutlicher geworden?

Diese Pandemie hat Kraft und Lebensfreude gefressen und sich wie ein Grauschleier über uns alle gelegt, in diesem Jahr noch einmal stärker als im letzten. Ich merke, dass für mich in diesem Jahr das Vertrauen darauf, in Gottes Hand zu sein und getra­gen zu werden, extrem wichtig war. Als die Hoffnung auf eine schnelle Verbesserung der Lage schwand, war das Einzige, was mir wirklich Zuversicht gab, das Wissen, dass ich in Gottes Hand bin.

Welchen Stellenwert haben der Glauben und die Religion heute für die Wertebildung in unserer Gesellschaft?

Unsere Gesellschaft ist stark christlich geprägt. Ein Zeichen dafür ist unser immer noch starkes Sozialwesen, das – auch wenn es nicht perfekt ist – im Vergleich zu anderen Ländern gut aufgestellt ist. Und die Grundlage dieses Sozialsystems ist die Überzeugung, dass kein Mensch unwichtig ist, dass wir alle Geschwister und Gottes Geschöpfe – und deshalb dem Nächsten verpflichtet sind. Aber auch die Liberalität unserer Gesellschaft hat eine christliche Grundlage: Jeder von uns hat die Aufgabe, sein Leben in Verantwortung gegenüber Gott bestmöglich zu gestalten. Andere Menschen können uns deshalb nur begrenzt vorschreiben, wie wir zu leben haben und wie nicht. Dieser eher protes­tantische Wert ist für unsere Gesellschaft sehr prägend.

Dirk Ahrens

Viele einstmals prägende Werte, die auf das Christentum zurückzuführen sind, sind aber auch in die Jahre gekommen …

Ohne Zweifel, das sind Werte, die sehr kon­kret waren – zum Beispiel, dass Mann und Frau in der Ehe zusammenleben und Kinder zeugen mussten. Nur dann erfüllten sie ihre Aufgabe, waren vollwertig Mann oder Frau. Dieser Wert tritt heute eher zurück, vor dem Hintergrund des größeren Wertes, dass jeder Mensch sein Leben selbst gestal­ten und vor Gott und den Mitmenschen verantworten muss. Unsere Gesellschaft hat sich so stark gewandelt und ist so vielfältig geworden – auch bei den Lebensformen –, dass wir bestimmte, ehemals kultur­prägende Werte nicht aufrechterhalten können und wollen. Zudem wir durch die fortschreitende Wissenschaft Gott in seiner Schöpfung als Meister der Vielfalt erkennen gelernt haben. Unser größter Wert muss sein, dass diese Gesellschaft ein guter Ort für alle Menschen sein soll.

Wie stark machen Sie im Alltag der Arbeit der Diakonie deutlich, dass Sie auf dieser Wertegrundlage handeln?

Die Diakonie ist die soziale Arbeit der evangelischen Kirche. Wenn wir aufhören, das deutlich zu machen, dann sind wir auch nicht mehr Diakonie. Das ist unsere DNA. Es gibt andere Anbieter, die eine gute soziale und medizinische Arbeit machen. Aber was uns erkennbar machen sollte, ist, dass wir unsere Arbeit als Ausdruck unseres Glaubens an das kommende Reich Gottes verstehen. Wir verstehen unsere Arbeit als Arbeit, die wir im Auftrag Gottes machen.

„Unser größter Wert muss sein, dass diese Gesellschaft ein guter Ort für alle Menschen sein soll“

Wie vermitteln Sie das – nach innen gegenüber Ihren Mitarbeitenden und nach außen gegenüber Ihren Klient*innen?

Wir haben heute eine sehr diverse Mitarbeiterschaft. Noch bis vor einigen Jahren wurden in der Diakonie nur Mitarbeitende eingestellt, die Mitglied einer christlichen Kirche sind. Inzwischen beschäftigen wir in zunehmender Zahl Menschen, die nicht einer christlichen Kirche angehören, sondern einen anderen oder keinen Glauben haben. Und da ist es äußerst wichtig geworden, dass wir allen Mitarbeitenden deutlich machen, wo sie arbeiten. Darauf haben sie ein Recht – und wir haben dazu die Pflicht. Von unseren Mitarbeitenden erwarten wir in diesem Zusammenhang, dass sie die diakonischen Werte mittragen, auch wenn sie den Glauben nicht teilen. Ich habe z. B. muslimische Kolleginnen und Kollegen, die absolut unterstützen, was die Diakonie macht, und voll dahinterstehen.

Dirk Ahrens

Wie kann man sich das praktisch vorstellen?

Auf Ebene der Mitgliedsunternehmen stecken sehr viele Energie in eine intensive Profilberatung. Wir führen viele Gespräche in Mitgliedseinrichtungen, in denen wir helfen, die diakonische Wertegrundlage zu thematisieren. Und das wird stark nachgefragt. Auch in den Gesprächen mit leitenden Mitarbeitenden erleben wir immer wieder, dass sie es schätzen, mit diesen grundsätzlichen Fragen konfrontiert zu werden, weil es sie daran erinnert, warum sie in der Diakonie arbeiten.

Können Sie das etwas konkretisieren?

Bei uns im Haus machen wir das so: Alle neuen Mitarbeitenden des Diakonischen Werkes durchlaufen bei uns einen Profilkurs. Das ist ein dreitägiger Kurs, in dem es darum geht, was die Diakonie ist und welche Grundlagen sie hat. Diese Kurse haben auch theologische bzw. spirituelle Anteile. Außerdem gibt es im Diakonischen Werk immer wieder Anlässe wie etwa Feste und Feierlichkeiten, denen wir eine theologische Prägung geben, etwa in Form einer Andacht. Wenn ich als Landespastor eine Rede zu einem Jubiläum halte, verschweige ich nicht, was die Grundlage unserer Arbeit ist und was mein Glaube ist. Und wir unterstützen und initiieren gemeinschaftsbildende Maßnahmen wie Auszeiten, Feiern, den Chor usw.
Jede diakonische Einrichtung muss einen Weg finden, wie diakonisches Profil in ihr gut und authentisch erlebbar wird.
Bei der Suche danach begleiten wir sie mit unserer Profilberatung. Dass draußen am Gebäude „Diakonie“ dransteht, muss uns immer wieder dazu veranlassen zu überlegen, was das drinnen eigentlich bedeutet. Und das ist gut so.

Wo wird das spürbar? Was unterscheidet Sie im Vergleich zu anderen Sozialunternehmen?

Wir verstehen uns und jeden Menschen von Gott gewollt und gehalten. Was wir Positives schaffen, basiert nur zum Teil auf unserer Leistung und unserem Können. Wir machen Fehler wie unser Mitmensch auch. Deshalb ist Vergebung zentral. Wir alle haben immer eine neue Chance verdient. Und Nächstenliebe ist die Motivation für alles, was wir tun. Das muss immer wieder erzählt werden, aber es wird auch spürbar: Wegen der Nächstenliebe haben wir den Auftrag und den Willen, auf allerhöchstem Niveau zu arbeiten. Unsere Mitarbeitenden werden solide fortgebildet und wir achten auf Qualität und Standards. Eine zweite Ebene ist der Umgang mit den Mitarbeitenden, die ein Recht darauf haben zu wissen, wo sie arbeiten. Dazu gehört auch zu spüren: Leistung ist wichtig, aber nicht alles. Manchmal brauchen wir Trost und Unterstützung und erhalten die auch von Vorgesetzten und Kolleginnen. Und nicht zuletzt geht es auch um arbeitsrechtliche Fragen: Mit Arbeitnehmerinnen, die Sie ausbeuten und schlecht behandeln, brauchen Sie nicht über christlichen Glauben zu reden. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir in der Diakonie nach dem sogenannten dritten Weg oder nach gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträgen vergüten und diese Vergütungen in der Sozialwirtschaft im oberen Segment liegen. Dass wir anständige Urlaubs- und Arbeitszeitregelungen und auch gute Vertretungen der Mitarbeitenden in Betriebsräten haben.

Dirk Ahrens

Was erwarten Sie von Ihren Beschäftigten?

Man muss wissen, wo man arbeitet. Man muss verstehen, welchen Hintergrund unsere diakonischen Einrichtungen haben und worum es dabei geht. Und man muss das mindestens respektieren. Wenn man dazu eine grundsätzlich positive Meinung hat, aber Kritik an dem einen oder anderen Aspekt von Kirche oder Diakonie hat, dann sind wir ganz auf einer Ebene. Denn das geht mir ja ganz genauso.

Welche Aufgabe kann Diakonie angesichts der Spaltungstendenzen in der Gesellschaft erfüllen?

Wenn man als Kirche und Diakonie öffentlich für Inklusion, Integration und Zusammenhalt in der Gesellschaft der Vielfältigen eintritt, muss man selbst glaubwürdig auftreten und handeln. Deshalb ist die Öffnung für Menschen aller religiösen und weltanschaulichen Haltungen, sofern sie nicht menschenfeindlich sind, nur zu begrüßen. Wir müssen deutlich machen, dass wir trotz unserer Vielfalt nach einem gemeinsamen Wertekanon leben können, der uns wichtig ist und der auch traditionelle Wurzeln hat. Das ist die Aufgabe, vor der die ganze Gesellschaft steht. Wir haben dafür als Diakonie und Kirche gute Grundlagen und Traditionen, denn das Christentum ist bereits in der Bibel interkulturell und inklusiv angelegt.

Welche Wünsche und Erwartungen haben Sie aus Sicht der Diakonie an die neue Bundesregierung?

Das Megathema ist Klimaschutz. Die Sozialwirtschaft ist für sechs Prozent der Emissionen in Deutschland verantwortlich – mehr als die Automobilwirtschaft. Die Diakonie möchte bis 2035 klimaneutral sein, was ein sehr ambitioniertes Ziel ist. Aber wo kommen die Mittel für die notwendigen Investitionen her? Gemeinwohlorientierte Unternehmen haben keine großen Rücklagen, weil sie auch keine großen Gewinne erwirtschaften dürfen. Wir werden stark in Digitalisierung investieren müssen, wir müssen bei der energetischen Sanierung unserer Gebäude und der Umstellung unseres Fuhrparks weiterkommen. Wir unterstützen die Politik bei ihren Klimazielen, brauchen aber Hilfe bei der Finanzierung, weil wir diese Maßnahmen nicht mit eigenen Mitteln umsetzen können. Ein zweiter Punkt, der mir Bauchschmerzen bereitet, ist, dass Menschen am unteren Einkommensrand angesichts der steigenden Inflation und stark steigender Energiepreise überfordert werden. Sie zahlen einen wesentlich höheren Anteil an ihrem Einkommen für Energie, als das Wohlhabende tun, obwohl sie sehr viel weniger verbrauchen. Und hier müssen wir dringend aufpassen, dass Klimaschutz nicht zulasten ärmerer Menschen geht. Geringverdienende müssen für die Kosten des Klimaschutzes entschädigt werden, und das auf eine möglichst unbürokratische Weise. Unsere Aufgabe als Diakonie ist es, eine Lobby für diese Menschen zu sein.


››› Zur Person

Dirk Ahrens (58) ist seit 2014 Landespastor und Vorstandsvorsit­zender des Diakonischen Werkes Hamburg. Der geborene Niedersachse hat sein Vikariat von 1990 bis 1992 in der Pommerschen Landeskirche in Greifswald absolviert und war danach bis 1994 als Lehrer am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaf­ten der Universität Greifswald und anschließend als Studienleiter am Theologisch-Pädagogischen Institut der Pommerschen Evangeli­schen Kirche tätig, das er von 1999 bis 2001 leitete. 2001 wurde er in Hamburg ordiniert und Gemeindepas­tor in Wandsbek. Von 2009 bis 2014 leitete er das Diakonie-Hilfswerk in Hamburg.