Evangelisch und christlich sein in einer offenen, bunten, vielfältigen Welt – die Evangelische Stiftung Alsterdorf arbeitet intensiv an ihrem diakonischen Profil.
Katharina Seiler möchte einen lebendigen Dialog mit Mitarbeitenden darüber führen, was es bedeutet, in einer evangelischen Stiftung zu arbeiten – Foto: Axel Nordmeier
In Alsterdorf ist es längst Alltag: Wer für die Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA) arbeitet, braucht seit 2015 kein Mitglied einer der anerkannten christlichen Kirchen zu sein. Seither arbeiten hier auch zunehmend Menschen muslimischen Glaubens, Menschen, die sich dem Buddhismus nahe fühlen, oder Menschen, die – scheinbar – keinen Glauben haben.
In einer Gesellschaft, die immer bunter wird, ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Für ein diakonisches Unternehmen, das qualifiziertes Personal sucht und dabei hohe Ansprüche an die Qualität und Professionalität stellen muss, ist das sogar eine Notwendigkeit – in vielen Bereichen würde die Forderung nach dem Taufschein es fast unmöglich machen, ausreichend kompetente Mitarbeiter*innen zu finden. Und wie würde ein solches Unternehmen nach außen erscheinen, wenn sein Personal nicht ebenso vielfältig und bunt wäre wie seine Kundinnen und Kunden?
Und doch stellt sich für eine evangelische Stiftung dann eine Frage: Was ist eigentlich das „Evangelische“ an diesem Unternehmen? Was unterscheidet diese Einrichtung, die zur Diakonie – den sozialen Diensten der evangelischen Kirche – gehört, von anderen Sozialunternehmen?
Lebendiger Diskurs über Leitwerte und Selbstverständnis
Eine Frage, die in Alsterdorf schon seit einigen Jahren sehr ernst genommen wird. So ernst, dass über Jahre eine lebendige interne Diskussion über die eigenen Leitwerte geführt wird, der Austausch und Gespräche über das Selbstverständnis fest im Alltag der Führungskräfte und Mitarbeitenden integriert sind – und dass sogar eine eigene Stabsstelle eingerichtet wurde, die direkt dem theologischen Vorstand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf untersteht.
„Wir sehen Vielfalt als Schatz unseres Unternehmens“
Sie heißt Diakonische Profilentwicklung. Verkörpert wird sie durch die Sozialpädagogin und Diakonin Katharina Seiler und die „diakonischen Schlüsselpersonen“. Seit rund zehn Jahren treibt sie die Frage um, wie man das „Evangelische“ in der Arbeit der Stiftung so fassen kann, dass es ihr nach außen eine klare Identität gibt, ohne zugleich Menschen anderen Glaubens auszuschließen oder gar abzuschrecken. „Wir sehen die Vielfalt nicht als Verwässerung unserer Identität, sondern als Schatz eines Unternehmens, das sich gerade in der Vielfalt als evangelisch versteht“, sagt die 57-Jährige. „Wir sind konfessionell bunt. Aber wir möchten gemeinsam einen Dialog darüber führen, was es bedeutet, Mitarbeiter*in in einer evangelischen Stiftung zu sein. Es geht primär nicht nur darum, das Profil nach außen zu stärken, sondern gemeinsam Identität zu schaffen.“ Als Katharina Seiler vor rund zehn Jahren zur Stiftung kam, war die Situation noch eine ganz andere. Obwohl zu dieser Zeit die Kirchenmitgliedschaft noch eine unverrückbare Bedingung für die Beschäftigung in Alsterdorf war, war das Selbstverständnis doch ziemlich brüchig. Der lange Schatten der Geschichte der früheren „Alsterdorfer Anstalten“ reicht bis weit ins 21. Jahrhundert.
Kritische Betrachtung der eigenen Geschichte
Zur Erinnerung: Insgesamt wurden 630 Bewohnerinnen und Bewohner aus den Alsterdorfer Anstalten in Zwischen- oder Tötungsanstalten abtransportiert, darunter auch viele Kinder, allein neun direkt in die sog. Kinderfachabteilungen. 513 abtransportierte Bewohnerinnen und Bewohner wurden nachweislich getötet, fünf überlebten das Kriegsende und starben kurz danach an Entkräftung, von 32 ist das Schicksal unbekannt. Nur 80 haben überlebt.
Nach dem Ende der NS-Zeit war das inhumane Menschenbild, das aus diesen „Euthanasie“-Aktionen sprach, jedoch nicht verschwunden. Mit dem Personal, das zum Teil weiterbeschäftigt wurde, überlebten auch menschenverachtende Praktiken. Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung lebten hier jahrzehntelang unter teilweise unwürdigen Bedingungen und wurden eher verwahrt als gefördert. Bis 1979 sollte es dauern, bis ein großer Artikel im „Zeit-Magazin“ in drastischer Form die „Schlangengruben der Psychiatrie“ – so der Titel des Heftes – ins Blickfeld rückte. Als die ESA Mitte der 1990er-Jahre kurz vor der Insolvenz stand, waren es drei Akteure, die eine Auflösung des Unternehmens verhinderten: Die Mitarbeiter*innen, die in einem festgelegten Zeitrahmen auf tariflich ausgehandelte Lohnerhöhungen verzichteten, die Stadt Hamburg und die evangelische Kirche, die eine große Bürgschaft übernahm.
Werte mit Leben füllen und Offenheit im Austausch
„Vor zehn Jahren, als ich hier meine Stelle antrat, war es hier für viele normal zu sagen, dass protestantische Überzeugungen nicht interessieren“, sagt Katharina Seiler. „Das hat mich aufhorchen lassen, war angesichts der Anstaltsgeschichte der Einrichtung aber auch nachvollziehbar.“ Inzwischen sei die Situation eine andere: „Heute wollen viele Menschen bei uns arbeiten, weil sie sagen: Ihr hantiert so offen mit euren Werten. Das finden wir gut. Es scheint uns gelungen zu sein, ein anderes Vokabular zu finden als das klassisch religiöse.“
Würde, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Freiheit, Verantwortung. Das sind die Leitwerte der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, die in einem internen Diskussionsprozess entwickelt wurden und heute nach innen und außen vermittelt und gelebt werden. Klare Begriffe, die Offenheit ausstrahlen und in ihren Inhalten zweifellos mit dem Christentum und dessen zentralen Wertbegriffen in engster Verbindung stehen. Und doch auch offen für andere Glaubensformen und Weltanschauungen sind.
Das gefällt nicht allen. In einer immer noch protestantisch geprägten Stadt gibt es viele Menschen, die bei diesen Fragen von kirchlichen oder kirchlich geprägten Einrichtungen eine klare Kante fordern. „Natürlich brauchen wir auch diejenigen, die das ‚klassisch Evangelische‘ hochhalten möchten und bei öffentlichen Veranstaltungen ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘ singen möchten“, sagt Katharina Seiler. „Doch wir sollten die Menschen dort abholen, wo sie sind. Und wie viele Menschen können oder möchten heute das Kirchenlied von Luther noch mitsingen? Diese Spannung zwischen den Positionen ist bei uns ein Dauerzustand, und das ist auch gut so. Denn das kann sehr produktiv sein.“
Diakonische Schlüsselpersonen
Doch wie lässt sich diese Form der Profilbildung in der Stiftung mit Leben füllen? Es kann nur über Menschen gehen. Und deshalb gibt es seit zwei Jahren in vielen Arbeitsbereichen, wie zum Beispiel den Assistenzbereichen, den Bugenhagenschulen, der alsterarbeit, den Krankenhäusern, der Holding, 14 sogenannte diakonische Schlüsselpersonen. Sie stehen als Ansprechpersonen für spirituelle und religiöse Fragen bereit und bringen die Leitwerte der Stiftung ins Gespräch.
„Ich bin gläubige Christin und mache das in meinem Arbeitsbereich auch öffentlich“, erklärt Maike Rosenbrock, die im Fachdienst (Sozialpädagogische Begleitung) bei der alsterarbeit gGmbH angestellt und als Schlüsselperson für die Gesellschaft zuständig ist. „Ich merke, dass es vielen Menschen sehr guttut, über ihren Glauben und ihre Zweifel zu sprechen.“
Im Augenblick würde es in zahlreichen Gesprächen oft um die Themen Tod, Trauer und Sterben gehen. Gerade bei diesen schwierigen Themen scheint sie gefragt zu sein, weil diese im Alltag sonst eher beschwiegen werden oder es dabei zu Überforderungssituationen kommen kann. „Wir haben eine gute Willkommenskultur, es gibt jedoch immer wieder Unsicherheiten bei Abschieden.“ Die Erarbeitung einer „Abschiedskultur“ ist perspektivisch ein Thema für Maike Rosenbrock. Sie möchte aber noch weitere christliche Themen in ihrem Arbeitsbereich anstoßen und darüber mit den Kolleg*innen ins Gespräch kommen.
Auch Berndt Rytlewski, Schlüsselperson für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit, sieht im Angebot von Gesprächen für Fachgruppen und Interessierte einen wichtigen Teil seiner Funktion. „Sich für andere Zeit zu nehmen ist ein diakonisches Element“, sagt er. „Ansprechbar zu sein, Kontakte zu schaffen und zu pflegen, menschliche Nähe aufzubauen. Durch eine solche Haltung möchten wir deutlich machen, dass ein diakonischer Arbeitgeber nicht nur ein einfaches Sozialunternehmen ist, sondern eine Identität hat, die spürbar bleiben soll.“
Und auch Schülerinnen und Schüler sind manchmal froh, wenn ihnen eine Ansprechperson für religiöse Fragen zur Verfügung steht. Verena Brodowski arbeitet als Sozialpädagogin und Schulseelsorgerin in der Bugenhagenschule im Hessepark in Blankenese und ist ebenfalls diakonische Schlüsselperson. „Manchmal findet das im Alltag zwischen Tür und Angel statt, manchmal machen Schülerinnen auch einen Termin, um einfach ihr Herz auszuschütten“, sagt sie. Mitunter geht es auch um praktische Unterstützung. Jeden Montagmorgen finden in den Klassenzimmern Andachten statt, die zusammen mit den Schülerinnen gestaltet werden. Dann gibt Verena Brodowski Tipps für Texte und Themen. Das Schulkollegium kennt sie inzwischen schon als Schlüsselperson. Sie kann an der Gestaltung von Gottesdiensten mitwirken – und manchmal einfach nur für ein Gespräch über Glaubensfragen da sein. „Doch wir wollen hier niemandem etwas überstreifen“, sagt sie. „Ich versuche, diese Rolle sensibel zu handhaben.“
Haltung sichtbar machen
In naher Zukunft wird das Profil der Evangelischen Stiftung Alsterdorf auch an einem neu gestalteten Ort sichtbar werden – wenn der laufende Umbau der Kirche St. Nicolaus abgeschlossen sein wird. Dieser Umbau ist ein weiterer Meilenstein der Profilentwicklung der Stiftung. Und das Ergebnis eines langen Prozesses, an dem viele Menschen beteiligt waren.
Die Kirche, die noch zu Lebzeiten von Pastor Heinrich Sengelmann 1889 als Kirche der Alsterdorfer Anstalten gebaut wurde, strahlte noch vor wenigen Jahren eine gewisse Düsterkeit aus. Besonders an einem 1938 errichteten Wandbild entzündeten sich heftige Diskussionen. Auf ihm sind um den gekreuzigten Jesus zwölf Personen mit einem Heiligenschein dargestellt, darunter auch der Anstaltsgründer Heinrich Matthias Sengelmann, Martin Luther und eine Krankenschwester. Zu erkennen sind drei weitere Personen, die als „behindert“ dargestellt sind – und keinen Heiligenschein tragen. Das Bild führt drastisch die Ausgrenzung von Menschen vor Augen, gemalt nur wenige Jahre vor der massenhaften Ermordung dieser Menschen durch die Nationalsozialisten.
„Ein Arbeitskreis entwickelte Ideen für die Umgestaltung unserer Kirche und eine offene Nutzung dieses bedeutsamen Gebäudes,“ erklärt Katharina Seiler.
Zusammen mit Mitarbeitenden, Klientinnen der Stiftung, Anwohnerinnen und Fachleuten aus verschiedenen Bereichen wurden drei Arbeitsgruppen gebildet. Eine beschäftigte sich mit dem barrierefreien Ausbau des Innenraums, eine mit dem inhaltlichen Konzept des künftigen Kirchenraums und eine mit dem Altarbild. Für den Sanierungsprozess der St. Nicolaus-Kirche, wie zum Beispiel für eine umfassende Barrierefreiheit, wurden spezielle Spendenmittel eingeworben.
Für das Altarbild wurde eine spannende Lösung entwickelt: Es ist inzwischen als Ostwand komplett aus dem Kirchenbau herausgelöst worden und hinter dem Chor der Kirche im Außenraum, leicht versetzt, aufgestellt worden. Es wird der Mittelpunkt eines Lern- und Gedenkortes werden, der den Opfern der Euthanasie der „Alsterdorfer Anstalten“ gewidmet wird.
„Ich sage immer, dass diese Kirche meine stärkste Verbündete bei der Profilentwicklung ist“, sagt Katharina Seiler. „Sie ist einfach da, unverrückbar und sichtbar evangelisch. Sie symbolisiert die Tradition, vor der wir hier arbeiten. Doch wir können heute nicht einfach ungebrochen die Tradition weiterführen. Die Menschen machen die Kirche im besten Fall zu ihrer und ihre Überzeugungen dürfen in der Kirche zum Ausdruck kommen.“
Viele beteiligen sich an den Überlegungen zur künftigen Nutzung der Kirche. Und das spiegelt die gesamte Stiftung wider: Sofern sie die Leitwerte mittragen können, sind alle Menschen als Mitarbeiter*innen in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf willkommen. Auf die bloße Kirchenmitgliedschaft kommt es nicht mehr an.